25.03.2020 - Kommentare

Auch Wirtschaftskrisen können die Sterberate erhöhen

von Thomas Mayer


Die wirtschaftlichen Kosten der pauschalen sozialen Distanzierung steigen mit ihrer Dauer exponentiell auf schwindelerregende Höhen. Warum Deutschland das kaum noch lange durchhalten kann.

In dieser Zeit sind wir alle dazu angehalten, die Wirkungen von Sars Cov-2 auf unsere Gesundheit, Wirtschaft und Finanzen besser zu verstehen. Einen ähnlichen Druck zum schnellen Erwerb neuer Kenntnisse gab es in der jüngeren Geschichte nur Anfang der 1990er Jahre nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums und in der Finanzkrise von 2007/2008. Damals mussten wir lernen, wie man sozialistische Planwirtschaften in Marktwirtschaften zurück wandelt (oder, wie es auch hieß, wie man aus Spiegeleiern Eiern macht), und welche Rolle die Banken und der Finanzsektor bei der Erzeugung von Finanz- und Wirtschaftskrisen spielen. Damals wie heute gibt es keine Blaupausen, die den Weg weisen könnten. Wir lernen durch Versuch und Irrtum.

Von den Virologen und Epidemiologen lernen wir, dass die Sterberate (S) bei der durch das Virus verursachten Krankheit Covid-19 von der Dynamik der Infektionsrate (R) und der Zahl der Schwerkranken relativ zur Kapazität des Gesundheitssystems zu ihrer Versorgung (G) abhängt. Je höher R und je höher G, desto höher S. Vergleicht man die Anzahl der Toten pro Million Einwohner der am meisten betroffenen Ländern ergeben sich deutliche Unterschiede:

LandTodesfälle je Million Einwohner
China2,3
Frankreich12,8
Deutschland1,6
Italien102,4
Japan0,3
Südkorea2,4
Spanien58,2
Großbritannien5,1
USA1,8
Quelle: John Hopkins University und nationale Statistiken, Stand: 24.03.2020.

In China und Südkorea, wo die Neuinfektionen weitgehend unterbunden werden konnten, liegt die Sterberate mit 2,3 und 2,4 nahe beieinander. In den Ländern auf dem europäischen Kontinent, wo die Welle der Neuinfektionen nur wenig zeitverzögert läuft und das Wachstum noch hoch ist, variieren die Sterberaten enorm. Die extrem hohe Rate in Italien sowie die höheren Raten in Spanien und Frankreich auf der einen und die niedrige Rate in Deutschland auf der anderen Seite könnte mit den Lebensgewohnheiten der Bevölkerungen und der Leistungsfähigkeit der Gesundheitssysteme zusammenhängen. Diese Faktoren könnten auch die niedrige Rate in Japan erklären. Dagegen dürften die Raten in Großbritannien und den USA die Zeitverzögerung der Infektionswelle gegenüber den anderen Ländern widerspiegeln.

Die Virologen fordern, dass man die Infektionsrate R durch harte Maßnahmen zur Kontaktverringerung drückt, um Zeit für die Verringerung von G durch Stärkung des Gesundheitssystems zu gewinnen, so dass man die Sterberate S minimieren kann. Von den Ökonomen lernen wir aber auch, dass die wirtschaftlichen Kosten K umso höher sind, je brachialer wir R drücken. So hat das Ifo-Institut diese Woche die Wirkungen von allgemeinen Kontaktsperren von verschiedener zeitlicher Länge für Deutschland untersucht. Bei einer Kontaktsperre von einem Monat wird der Rückgang des Bruttoinlandsprodukts in diesem Jahr auf 4 bis 8 Prozent geschätzt. Besteht die Kontaktsperre jedoch drei Monate, beläuft sich der Verlust auf 10 bis 21 Prozent. Die Belastungen für den Staatshaushalt würden sich auf 1,5 bis 5,8 Prozent des BIP belaufen (ohne die beschlossenen Hilfsprogramme, für die die Bundesregierung neue Kredite in Höhe von 4,5 Prozent des BIP aufnehmen will).

Angesichts dieser Zahlen, die für andere Länder nicht besser aussehen dürften, droht die Gefahr, dass der durch Maßnahmen zur Verringerung der Infektionsrate gewonnene Rückgang der Sterberate durch die Erhöhung der wirtschaftlichen Kosten kompensiert wird. Denn Wirtschaftskrisen können auch das Befinden verschlechtern und die Sterberate erhöhen. Außerdem schwächen sie die Finanzkraft zur Stärkung des Gesundheitssektors.

Wir werden also um die Abwägung verschiedener Ziele – das heißt, die Wahl von „Trade-offs“ – nicht herumkommen. Es gilt, die wirtschaftlichen Kosten gegen die Konsequenzen einer Infektion und die Kosten der Verringerung der Infektionsrate abzuwägen. Je geringer die Konsequenzen sind und je effizienter die Infektionsrate verringert werden kann, desto niedriger werden die wirtschaftlichen Kosten ausfallen. Die Konsequenzen der Infektion können durch die Erhöhung der Kapazität des Gesundheitssektors, neue Medikamente und Impfstoffe verringert werden. Und die Effizienz der Verringerung der Infektionsrate kann durch den Übergang von der pauschalen zu einer selektiven sozialen Distanzierung erhöht werden. Insbesondere Südkorea und Singapur haben erfolgreiche Methoden zur selektiven sozialen Distanzierung entwickelt, indem sie die Distanzierung auf den Kreis nachweislich infizierter und besonders gefährdeter Personen einschränken. Möglicherweise müssen wir damit rechnen, dass Länder mit hohen Sterberaten und geringen Möglichkeiten zur selektiven sozialen Distanzierung länger die pauschale soziale Distanzierung durchsetzen müssen als besser gestellte Länder. Dadurch dürften die Belastungen der Länder im Euroraum sehr unterschiedlich hoch ausfallen. Was das für die Zukunft der Eurozone bedeutet, wird später auf die Agenda kommen.

Für die Finanzmärkte heißt die Zieleabwägung, dass die Zahl der für die Entwicklung relevanten Variablen größer wird. Haben sie bisher vor allem auf die Dynamik der Infektionsrate (R) und die von den Regierungen getroffenen Maßnahmen zur Verringerung der Kosten der Wirtschaftskrise (M) geachtet, so kommen nun Maßnahmen zur Steigerung der Effizienz bei der Verringerung der Infektionsrate (E) und zur Verringerung der Konsequenz von Infektionen (G) hinzu. Die Wende zur Erholung dürfte kommen, wenn ein niedrigeres R und G sowie höhere M und E die Erwartungen für die Kosten der wirtschaftlichen Einbußen K verringern.

Die weitere Entwicklung der Variablen ist ungewiss. Aber eines lässt sich sagen: Die wirtschaftlichen Kosten der pauschalen sozialen Distanzierung steigen mit zunehmender Dauer exponentiell auf schwindelerregende Höhen. Lange wird sich diese Art der Distanzierung nicht aufrechterhalten lassen.

Erschienen online in der WirtschaftsWoche am 25.03.2020.

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