06.09.2019 - Kommentare

Brexit-Erlösung durch Neuwahlen?

von Norbert F. Tofall


Die Frage Deal- oder No-Deal-Brexit dürfte wohl dann entschieden sein, falls Boris Johnson aus Neuwahlen als Gewinner hervorgeht. Verliert Boris Johnson bei Neuwahlen, sind alle Frage offen.

Im Moment gibt es in Großbritannien sowohl die Möglichkeit von Neuwahlen am 15. Oktober 2019 und von Neuwahlen erst ab November. Daß es zu keinen Neuwahlen kommt, ist unwahrscheinlich, da sowohl Premierminister Johnson als auch die Oppositionsparteien Neuwahlen anstreben. Man taktiert um den Termin, weil Johnson auf jeden Fall am 31. Oktober 2019 aus der EU austreten will und das auch ohne Deal, während die Oppositionsparteien und die von Johnson aus der Partei geworfenen Tory-Rebellen das verhindern wollen. Aber folgt daraus schon die Brexit-Erlösung? Und wie geht das Spiel weiter, wenn Johnson nicht als Premierminister zurücktritt, falls sein Vorhaben von Neuwahlen am 15. Oktober 2019 scheitern sollte und er dann gezwungen ist, die Verschiebung des EU-Austrittstermins zu beantragen?

Boris Johnson kann bei Neuwahlen am 15. Oktober 2019 gewinnen, aber auch verlieren. Und Johnson kann bei Neuwahlen erst im November oder Dezember gewinnen, aber auch verlieren. Unter „Gewinnen“ wird im folgenden verstanden, daß Boris Johnson eine klare Mehrheit im Parlament erringt, sei es durch eine Mehrheit von Abgeordneten der Konservativen Partei, die ihm bedingungslos folgt, oder sei es durch eine Koalition beispielsweise mit der Brexit-Partei von Nigel Farage, die nach Neuwahlen ins Unterhaus einziehen könnte. Betrachten wir die vier Möglichkeiten für Boris Johnson:

Erstens: Gewinnt Boris Johnson Neuwahlen am 15. Oktober 2019, dann wird er der EU einen Deal vorschlagen, der einen Backstop für Nordirland ausschließt. Sollte sich die EU darauf einlassen, was wohl unwahrscheinlich ist, kommt es zu einem Deal-Brexit zum 31. Oktober 2019. Da sich die EU auf einen derartigen Deal wohl nicht einlassen wird, Johnson aber eine Mehrheit im Parlament hat, um das Anti-No-Deal-Gesetz zu kippen, dürfte dann ein No-Deal-Brexit zum 31. Oktober 2019 wahrscheinlich sein.

Zweitens: Verliert Boris Johnson Neuwahlen am 15. Oktober 2019 dann dürfte das Anti-No-Deal-Brexit-Gesetz Bestand haben und eine britische Regierung muß die Verschiebung des Austrittsdatum auf den 31. Januar 2020 bei der EU beantragen. Daß die EU diesen Antrag ablehnt ist unwahrscheinlich. Offen ist dann jedoch, ob es zum 31. Januar 2020 zu einem Deal-Brexit, zu einem No-Deal-Brexit oder einer erneuten Verschiebung des Austrittstermins kommen wird oder ob durch ein vorheriges Referendum der Brexit zurückgenommen wird.

Drittens: Gewinnt Boris Johnson Neuwahlen im November oder Dezember dann wird er der EU einen Deal vorschlagen, der einen Backstop für Nordirland ausschließt. Sollte sich die EU darauf einlassen, was wohl unwahrscheinlich ist, kommt es zu einem Deal-Brexit zum 31. Januar 2020. Da sich die EU auf einen derartigen Deal wohl nicht einlassen wird, Johnson weder eine erneute Verschiebung des Austrittstermins beantragen wird und aufgrund seiner neuen Mehrheit im Parlament auch nicht beantragen muß und da Johnson ein neues Referendum ablehnt, dürfte dann ein No-Deal-Brexit zum 31. Januar 2020 wahrscheinlich sein.

Viertens: Sollte Boris Johnson eine Neuwahl im November oder Dezember verlieren, bleibt trotzdem ungelöst, ob es zum 31. Januar 2020 zu einem Deal-Brexit, zu einem No-Deal-Brexit, einer erneuten Verschiebung des Austrittstermins oder aufgrund eines neuen Referendums zu gar keinem Brexit kommen wird.

Zusammengefaßt heißt das, daß die Frage Deal- oder No-Deal-Brexit wohl dann entschieden ist, falls Boris Johnson aus Neuwahlen als Gewinner hervorgeht und eine Mehrheit im britischen Unterhaus erringt, die ihm bedingungslos folgt. Verliert Boris Johnson bei Neuwahlen, sind alle Frage offen.

Aber selbst falls Boris Johnson Neuwahlen gewinnt, sind die viel wichtigere Frage der zukünftigen Beziehungen zur EU und die noch wichtigere Frage der zukünftigen wirtschaftspolitischen Ausrichtung von Großbritannien nicht gelöst. Denn das größte ökonomische Risiko des Brexits besteht nicht darin, ob der Brexit mit oder ohne Austrittsvertrag erfolgt, wobei die Übergangsprobleme und Kosten bei einem harten Brexit natürlich größer sind als bei einem weichen. Das größte ökonomische Risiko des Brexits besteht darin, ob es Großbritannien nach dem Austritt aus der EU wirtschaftspolitisch gelingen wird, sich als attraktiver Wirtschaftsstandort so aufzustellen, daß die Nachteile durch das Ausscheiden aus dem Binnenmarkt durch interne Abwertungen zur Erhöhung der Standortattraktivität zumindest ausgeglichen und im Idealfall überkompensiert werden. Labour-Chef Jeremy Corbyn könnte Großbritannien in ein Venezuela light verwandeln. Und ob es den Hard-Brexiters gelingen wird, Großbritannien zu einem Singapur light zu transformieren, darf bezweifelt werden. Welche Mehrheiten sich zu diesen, für die Zukunft Großbritanniens wirklich entscheidenden Fragen im britischen Parlament bilden werden, steht im Moment in den Sternen.

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