04.10.2022 - Kommentare

Das Klischee von der Gerechtigkeit wird aufpoliert

von Marius Kleinheyer


Vor etwa zwei Wochen hat die Bertelsmann Stiftung eine Studie zum Gerechtigkeitsempfinden der Deutschen veröffentlicht.Das Medienecho danach war eindeutig. „Große Mehrheit will Reiche zur Kasse bitten“ titelte die Zeit,2 „Die Mehrheit der Deutschen wünscht sich eine Vermögensteuer für Reiche“ war im Handelsblatt zu lesen.3 Der aus der Umfrage schallende Ruf hat das von den Fragern gewünschte Echo erzeugt.

Wie Gerechtigkeit verstanden wird

Die Studie zeigt, wie in Deutschland in weiten Teilen der Bevölkerung über Gerechtigkeit gedacht und diskutiert wird. Statt jedoch Abstand zu den Befragten zu halten, greift sie selbst diese Denkweise auf.

So heißt es in der Einleitung: „In repräsentativen Bevölkerungsbefragungen wurde ermittelt, ob und in welchem Ausmaß die Verteilung wirtschaftlicher Güter als gerecht empfunden wird. Dabei wurde die subjektive Wahrnehmung der Verteilungsgerechtigkeit erhoben, nicht die objektiv gemessene soziale Ungleichheit.“4 Aus ihren Umfrageergebnissen ziehen die Autoren dann den Schluss: „Die zentrale Herausforderung lässt sich damit wie folgt benennen: In einer Gesellschaft, in der das Gefühl von Ungerechtigkeit verbreitet ist, gilt es, eine Akzeptanz für Transformationen zu schaffen (…).“5 Damit zeigen sich die Autoren aber als politische Aktivisten. Ihre Sorge scheint insbesondere darin zu liegen, dass die Klimapolitik an dem Widerstand der Bevölkerung scheitert. Als warnendes Beispiel wird auf die Gelbwestenbewegung in Frankreich hingewiesen.

In der Studie wird das Gerechtigkeitsempfinden der Deutschen in drei Dimensionen kategorisiert: 1. Allgemeine Verteilungsgerechtigkeit, 2. Gerechtigkeit des eigenen Einkommens und Vermögens, 3. Generationengerechtigkeit. Die Ergebnisse sind deutlich. 79 Prozent der Befragten sehen keine Verteilungsgerechtigkeit gegeben. Gerade einmal 39 Prozent sind der Meinung, dass das eigene Einkommen und Vermögen gerecht sei und 66 Prozent bewerten die Generationengerechtigkeit negativ.

Die Einstellung zu Gerechtigkeit wird anhand von vier Prinzipien untersucht, die jeweils einen Aspekt von Verteilungsgerechtigkeit abdecken sollen.6

  1. Leistungsprinzip: Es ist gerecht, wenn Personen, die im Beruf viel leisten, mehr verdienen als andere. Gerecht ist, wenn jede Person nur das bekommt, was sie sich durch eigene Anstrengungen erarbeitet hat.
  2. Gleichheitsprinzip: Gerecht ist, wenn alle die gleichen Lebensbedingungen haben. Es ist gerecht, wenn Einkommen und Vermögen in unserer Gesellschaft an alle Personen gleich verteilt sind.
  3. Anrechtsprinzip: Es ist gerecht, wenn Personen, die aus angesehenen Familien stammen, dadurch Vorteile im Leben haben. Es ist gerecht, wenn diejenigen, die in einer Gesellschaft oben stehen, bessere Lebensbedingungen haben als diejenigen, die unten stehen.
  4. Bedarfsprinzip: Eine Gesellschaft ist gerecht, wenn sie sich um die Schwachen und Hilfsbedürftigen kümmert. Es ist gerecht, wenn Personen, die Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zu versorgen haben, besondere Unterstützung und Vergünstigungen bekommen.

Verteilung nach Bedarf ist populärer als Verteilung nach Leistung, und Gleichheit schlägt Anrecht. Auf den ersten Blick könnten diese Ansichten die Prinzipien einer Leistungsgesellschaft widerspiegeln, in der es keine Anrechte geben, Leistung belohnt und Bedürftigen geholfen werden soll. Doch die weitere Befragung widerlegt diese Interpretation.

Ein großer Teil der Befragten spricht sich dafür aus, wirtschaftliche Ungleichheit mit der Einführung einer Vermögensteuer oder höheren Einkommensteuer für Besserverdienende zu verringern. Wenn dies jedoch mit der Besteuerung des eigenen Einkommens oder Vermögens verbunden ist, lässt die Begeisterung für Umverteilungsmaßnahmen nach.

Aber was ist „Gerechtigkeit“?

Es fällt auf, dass Gerechtigkeit exklusiv als Verteilungsgerechtigkeit verstanden wird. Aber selbst wenn man den Gerechtigkeitsbegriff auf diese Dimension einengen möchte, bleiben bei der Definition der Prinzipien Ungenauigkeiten.

Das scheinbar marktfreundliche Prinzip Leistung stellt auf „Anstrengung“ ab. Dabei ist Anstrengung ein äußerst subjektives Kriterium, dass im Zweifel gar nichts mit Verteilung zu tun haben muss. Ein Marathon ist mutmaßlich anstrengender als 90 Minuten Fußball spielen. Trotzdem verdient ein Fußballer sehr viel mehr. Der Fußballer in der Kreisliga strengt sich vielleicht mehr an als der Weltstar in einem Champions League Vorrundenspiel. Es ließen sich unzählige Beispiele anfügen. In einer Marktwirtschaft erzielt zunächst einmal derjenige ein hohes Einkommen, der es schafft, in besonderer Form die Nachfrage zu bedienen.

Das Gleichheitsprinzip stellt auf die „Gleichheit der Lebensbedingungen“ ab. Dieser Begriff ist unscharf und bedarf einer genaueren Erklärung. Die soziale Marktwirtschaft legt auf die Gleichheit der Lebensbedingungen großen Wert. Sie ist ein moralischer Anspruch an eine Gesellschaft. Diese Gleichheit der Lebensbedingungen bezieht sich aber vor allem auf die Gleichheit vor dem Gesetz und die Gleichheit bei der Abwesenheit menschenunwürdiger Zustände, wie zum Beispiel existenzbedrohende Armut. Die meisten Lebensbedingungen sind sehr unterschiedlich, schon von Natur aus. Die Vorstellung alle Lebensbedingungen der Menschen anzugleichen, ist in der Absolutheit ungerecht.

Entsprechend unscharf ist auch das Anrechtsprinzip, da auch hier wieder auf „Lebensbedingungen“ abgestellt wird.  Glück und Pech sind keine Gerechtigkeitsdimensionen. Wer aber das Glück hat, in eine wohlhabende oder auch nur einigermaßen funktionierende Familie geboren zu werden, hat deshalb noch lange kein Anrecht auf bessere Lebensbedingungen. Hier ist bereits der Begriff irreführend. Es ist deshalb auch nicht verwunderlich, dass das Anrechtsprinzip eine so geringe Zustimmung erhalten hat.

Die Studie schließt mit einer als Aufmunterung getarnten politischen Stellungnahme: „Bei den gewaltigen Aufgaben, vor denen wir stehen, ist jede und jeder gefragt. Das gilt für den Weg zu mehr Klimaschutz ebenso wie für eine pragmatische Hilfe für die Schwächeren und die Bewahrung des sozialen Miteinanders in unruhigen Zeiten. Welche Potenziale hierin liegen, haben die Coronapandemie und der Einsatz für Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und zuletzt aus der Ukraine gezeigt.“7

Frager und Befragte bestätigen sich gegenseitig

Die Studie der Bertelsmann Stiftung fügt sich nahtlos in die Debatte über soziale Gerechtigkeit in Deutschland ein. Ungleichheit wird in dieser Debatte als Ausmaß der Ungerechtigkeit dargestellt, die den Zusammenhalt in der Gesellschaft gefährde. Die Ungleichheit sei durch die Marktwirtschaft verursacht und würde durch sie immer weiter verstärkt, heißt es. Das oft wiederholte Narrativ lautet: „Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer.“  Um dieser, der Marktwirtschaft inhärenten Entwicklung entgegenzuwirken, bedürfe es der weitgehenden Korrektur durch den Eingriff des Staates.

Wie die Debatte bleibt auch die Studie vage und bedient bekannte Klischees. Eine genauere Definition, wer als reich gilt, findet sich in der Bertelsmann Studie nicht und wird auch bei Fragen etwa nach der Vermögensabgabe oder einem höheren Spitzensteuersatz ausgelassen. Verdeckt wird dabei, dass Umverteilung vor allem die Mitte der Gesellschaft trifft.

Gerechtigkeit in der liberalen Gesellschaft

Ein mit der Marktwirtschaft kompatibler Gerechtigkeitsbegriff fokussiert dagegen nicht auf die Gleichheit der Ergebnisse, sondern auf die Gerechtigkeit der Prozesse. Gerechtigkeit ist im Kern Maßstab für individuelles Verhalten und braucht gerechte Regeln. Die Gerechtigkeit der Regeln ist danach zu messen, inwieweit sie als gerecht empfundene Handlungen zulässt oder einschränkt. Dieses Empfinden kann aber nicht unabhängig von ökonomischen Gesetzmäßigkeiten betrachtet werden.

Unterschiede in Einkommen und Vermögen sind folglich nicht per se gerecht oder ungerecht. Friedrich von Hayek erkannte, dass in einer marktwirtschaftlichen Ordnung nur das Verhalten der Akteure, aber nicht das Ergebnis gerecht oder ungerecht sein kann.8 Er sah das Konzept der „sozialen Gerechtigkeit“ als Irrtum an. John Rawls hielt zwar an dem Begriff der sozialen Gerechtigkeit fest. Auch diejenigen in einer Gesellschaft, die Pech haben oder anderweitig nicht erfolgreich sind, müssten einer Gesellschaftsordnung grundsätzlich zustimmen können. Aber er bezog sich dabei auf die Gerechtigkeit der Chancen, und nicht auf die der Ergebnisse.

Hayek und Rawls widersprechen sich in der Theorie auf dem Feld der Chancengerechtigkeit, könnten aber in der Praxis umso schneller auf einen Nenner kommen. Eine Gesellschaft, die das Unternehmertum und Kapitalakkumulation nicht durch Umverteilung behindert, sondern durch Regeln der Gleichbehandlung aller Gesellschaftsmitglieder fördert, ist für alle erstrebenswert, insbesondere für die Armen.

Es ist eine lohnende Herausforderung, für die Gerechtigkeit marktwirtschaftlicher Prozesse zu werben. Ein Gerechtigkeitsbegriff entlang der Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft ist heute zwar schwierig durchzusetzen, aber langfristig notwendig. Denn eine Welt, in der es allen unterschiedlich gut und tendenziell immer besser geht, ist gerechter als eine Welt, in der es allen immer gleicher und immer schlechter geht. In Anbetracht der aktuellen ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung ist es höchste Zeit, neue Akzente in der Gerechtigkeitsdebatte zu setzen.


1 Bertelsmann Studie, siehe: www.bertelsmann-stiftung.de/de/unsere-projekte/gesellschaftlicher-zusammenhalt/projektnachrichten/gerechtigkeitsempfinden-in-deutschland-2022

2www.zeit.de/news/2022-09/09/grosse-mehrheit-will-reiche-zur-kasse-bitten

3www.handelsblatt.com/politik/deutschland/studie-zu-gerechtigkeit-die-mehrheit-der-deutschen-wuenscht-sich-eine-vermoegensteuer-fuer-reiche/28670842.html

4 Bertelsmann Studie, S. 10

5 Bertelsmann Studie, S. 10

6 Bertelsmann Studie, S. 24

7 Bertelsmann Studie, S. 51

8 von Hayek, Friedrich A. (1973/ 2003) Recht, Gesetz und Freiheit, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 221

 

 

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