03.02.2020 - Kommentare

Das Zinsrätsel

von Thomas Mayer


Früher kannte man den Zins als Ertrag auf die Ersparnis. Man wusste, dass Sparen zeitweiligen Verzicht auf Konsum bedeutete und ging davon aus, dass Menschen ihre Konsumpläne nur dann in die Zukunft verschieben würden, wenn es sich für sie lohnte. Heute lernt man den Zins als Steuer neu kennen. Zu all den anderen Steuern, die sich der Staat im Lauf der Zeit hat einfallen lassen, kommt nun noch die Steuer auf das an den Staat verliehene Ersparte in Form eines Negativzinses hinzu. Steht die Welt nun Kopf? Schulökonomen verweisen auf den Verfall eines „natürlichen“ Zinses, der nur durch das Prisma ihrer Modelle zu sehen sei. Doch mit diesen Modellen haben sie weder die Finanzkrise noch deren Nachwirkungen kommen sehen. Warum sollte man ihnen also noch glauben?

Versuchen wir es lieber mit dem gesunden Menschenverstand, der den Zins als Preis der Zeit versteht, für die man auf Konsum in der Gegenwart verzichtet, um künftig mehr konsumieren zu können. An diesen Preis passen sich die Aktivitäten der Wirtschaft zur Bildung von Kapital an, das höheren Konsum in der Zukunft ermöglicht. Ist der Preis der Zeit oder, anders gesagt, sind die Kosten für Konsumverzicht hoch, dann wird wenig gespart und Kapital gebildet. Ist er niedrig, ist es umgekehrt. Aber dieser Preis kann auf natürlich Weise nicht negativ werden, da Zeit für jeden einzelnen Menschen und die Menschheit insgesamt ein knappes Gut ist.

Betrachtet man den Zins über sehr lange Zeiträume, dann wird sein Charakter als Preis der Zeit deutlich. In ihrer Geschichte des Zinses über fünftausend Jahr finden Sydney Homer und Richard Sylla im alten Babylonien, Griechenland und Rom einen Rückgang der Zinsen während des Aufstiegs der Mächte und einen scharfen Anstieg während ihres Verfalls und Niedergangs. Paul Schmelzing findet in Europa seit dem frühen 14. Jahrhundert einen stetigen Rückgang der realen Zinsen, der mit dem Aufstieg des Kontinents einhergeht. Es lohnt sich immer mehr, auf die Zukunft zu warten. Doch wird der Zinsrückgang immer wieder unterbrochen, wenn sich die Zukunftsaussichten eintrüben. So stieg der Zins zwischen 1300 und 1450 von 10 auf 15 Prozent an. Das geschah in einer Zeit, in der beinahe die Hälfte der europäischen Bevölkerung an der Pest starb.

In unserer Zeit gibt es für den Anstieg der Zinsen bis 1981 und den danach folgenden Rückgang, mit negativen Zinsen auf deutsche Staatsanleihen seit 2015, allerdings keine aus den langfristigen Veränderungen der Lebensumstände herrührende Erklärung. Vielmehr dürfte dafür die von den Zentralbanken mit dem Zins gesteuerte Erzeugung unseres Kreditgelds verantwortlich sein. Während der Inflation der 1970er Jahre zogen die Zentralbanken die Zinszügel an, um die Kreditgeldschaffung der Banken zu bremsen. Danach ließen sie die Zügel wieder locker, und seit 2015 drücken die Europäische und einige andere Zentralbanken den Zins unter null, um die Inflation auf ihren Zielwert anzuheben - bislang allerdings ohne Erfolg.

Unsere Welt des „unnatürlichen“ Zinses erlebt eine Scheinblüte. Es lohnt sich nicht mehr, zur Kapitalbildung für höheren Konsum in der Zukunft zu sparen und die Möglichkeit zur Verschuldung scheint grenzenlos. Der Zins verliert seine Funktion als Mechanismus zur Verteilung knapper Spargelder auf rentierliche Projekte und neues Kreditgeld folgt der Anlagemode. Doch der gesunde (ökonomische) Menschenverstand weiß: Nichts ist umsonst. Wenn die Scheinwelt zersplittert, wird es darauf ankommen, langfristig werthaltige Anlagen zu besitzen.

Erschienen am 02. Februar 2020 in "Welt am Sonntag".

 

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