30.11.2020 - Kommentare

Der Corona-Zyklus

von Pablo Duarte


Von den Epidemiologen wissen wir, dass sich Virusinfektionen einem Zyklus folgend ausbreiten. Eine Analyse der Verbreitung des Coronavirus zeigt jedoch, dass dieser Zyklus nicht nur von der biologischen, sondern auch von der sozialen Dynamik beeinflusst wird. Statt der aus epidemiologischen Modellen bekannten Glockenkurve vollzieht sich die Verbreitung in Wellenbewegungen.

Frühere Analysen von Epidemien kamen zu dem Schluss, dass sich diese dem Muster einer Glockenkurve entsprechend verbreiten.1 Zunächst gibt jede Person, die sich infiziert hat, das Virus mehrfach weiter und die Zahl der aktiven Fälle steigt exponentiell an. Wenn eine kritische Menge an Personen jedoch Abwehrkräfte gegen das Virus gebildet hat, die Gesellschaft also die berühmte „Herdenimmunität“ erreicht hat, beginnen sich mehr Leute von der Krankheit zu erholen als infiziert zu werden. Der Verlauf der Krankheiten erreicht den Höhepunkt der Glockenkurve und schwächt sich wieder ab. Dieses Muster kann man seit den 1980er Jahren jedes Jahr bei den Verläufen von Grippeinfektionen beobachten.2

Zu Beginn der Verbreitung des Coronavirus vertraten einige Experten und Politiker die Ansicht, dass man den Anstieg der Infektionszahlen bis zur Erreichung der Herdenimmunität hinnehmen müsse. Danach würde die Krankheit von selbst wieder verschwinden. Bald wurde jedoch klar, dass die mit dieser Strategie verbundene Zahl an Todesfällen gesellschaftlich nicht akzeptabel war. Die Politik machte sich daran, den Anstieg der Zahl der Infizierten zu bekämpfen. Es entstand eine Wechselwirkung zwischen der biologischen Dynamik und der politischen und sozialen Reaktion auf die Verbreitung der Infektion.

Es zeigte sich, dass die politische Reaktion im Wesentlichen von vier Faktoren getrieben wurde: (1) der Entwicklung der Neuinfektionen, (2) der Kapazität des Gesundheitssystems zur Versorgung der Kranken, (3) dem erwarteten wirtschaftlichen Schaden durch soziale Distanzierung und der daraus folgenden Kompensation durch den Staat und (4)der sozialen Akzeptanz der ergriffenen Maßnahmen. Die Reaktion der Bürger wurde beeinflusst von (1) den staatlichen Maßnahmen, (2) der eigenen Einschätzung des Gesundheitsrisikos, (3) dem erwarteten persönlichen wirtschaftlichen Verlust und (4) der Neigung jedes Einzelnen, sich den Einschränkungen des öffentlichen Lebens zu fügen oder sich diesen zu widersetzen.

Biologische Dynamik und gesellschaftliche Reaktion haben länderübergreifend große Ähnlichkeiten. Abbildung 1 zeigt die Infektionswellen für 12 Länder, wobei die horizontale Achse statt dem Zeitverlauf den Logarithmus der Gesamtzahl der Fälle pro Million Einwohner angibt. Da sich die Epidemie nicht überall gleich schnell entwickelte, hing die gesellschaftliche Reaktion nicht übereinstimmend von der Zeit, sondern vom Stand der Infektionszahlen ab. Die vertikale zeigt den Logarithmus der Wochenmittelwerte der neuen Fälle pro einer Million Einwohner. Die logarithmische Darstellung bewirkt, dass ein exponentieller Anstieg der Zahl der Infektionen als gerade Linie erscheint.

 

Taiwan, Singapur und China sind die einzigen Länder der Stichprobe, in denen die Gesamtzahl der Infektionen derzeit nur mäßig ansteigt. Nach einer Phase des exponentiellen Anstiegs ging die Zahl der neuen Infektionen drastisch zurück. Die Epidemie konnte eingedämmt werden noch bevor die soziale Reaktion einen sichtbaren Einfluss auf den Verlauf haben konnte. Vermutlich spielte die Erfahrung dieser Länder mit dem Vorgängervirus SARS-COV-1 eine Rolle.

In den übrigen Ländern bestimmte das Zusammenspiel von biologischer und sozialer Dynamik den Verlauf viel stärker. Nach einer Phase des exponentiellen Anstiegs setzte die Reaktion in Form von staatlichen Maßnahmen ein, die stark von der zunehmenden Belastung des Gesundheitssystems bestimmt wurde. Eine geringere Rolle spielten die erwarteten Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum und der soziale Widerstand. Mit den erzwungenen und freiwilligen Änderungen im Sozialverhalten ging die Zahl der Neuerkrankungen zurück. Die geringere Zahl von Neuerkrankungen, der Kollaps der wirtschaftlichen Aktivitäten und die Abneigung gegen Lockdowns stießen dann eine erneute Änderung des Verhaltens an, so dass die Neuerkrankungen wieder exponentiell anstiegen. Der Anstieg löste erneut eine Reihe von staatlichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens aus, wobei diesmal angesichts des sozialen Drucks und der Erfahrungen aus der ersten Welle die negativen wirtschaftlichen Auswirkungen und das Potenzial für soziale Unruhen stärker gewichtet wurden.

Das beobachtete Muster lässt sich statistisch erhärten. Die Prinzipalkomponentenanalyse von Paneldaten aus 37 Ländern mit ausreichend langen Infektionsserien, zuverlässigen Daten und ausreichender Testkapazität (gemäß Definition der WHO) zeigt, dass 93% der Variation durch drei gemeinsame Hauptkomponenten erklärt werden können. Daraus kann man schließen, dass nicht nur die biologische, sondern auch die soziale Dynamik der Epidemie weltweit sehr große Gemeinsamkeiten aufweist.

Die schnellsten Reaktionen auf die Veränderungen der Gesamtzahl der Infizierten gab es in Japan und Südkorea. Westeuropa und die USA reagierten träger. Bei einem ähnlichen Niveau der Gesamtzahl der Fälle pro Million Einwohner verzeichneten Israel, Deutschland, Italien, Spanien und Irland einen starken Rückgang der Zahl der Neuerkrankungen, während Schweden und die USA eine weniger starke Reaktion zeigten. Verschiedene westeuropäische Regierung nutzen offensichtlich die Inzidenz neuer Fälle als Handlungsleitfaden. Als die Zahl der neuen Infektionen unter die Marke von 5 neuen Fällen pro einer Million Einwohner sank, lockerten sie die Maßnahmen und die neuen Fälle nahmen wieder exponentiell zu.

Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man statt der Infektionen die Zahl der Todesfälle als Indikator heranzieht (Abbildung 2). Bemerkenswert ist, dass in der zweiten Welle eine geringere Zahl an neuen Todesfällen reichte, um Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie auszulösen. So hat zum Beispiel in Israel ein erneuter Rückgang der Zahl der neuen Todesfälle begonnen, ohne dass die Zahl neuer Sterbefäll zu ihrem vorherigen Verlauf zurückgekehrt wäre.

Wie bei den Infektionszahlen zu beobachten, ist auch die Zahl der neuen Sterbefälle in Israel, Italien und Spanien wieder rückläufig. In anderen Ländern wurden neue Maßnahmen jedoch unter stärkerer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Auswirkungen und Möglichkeit sozialen Widerstands gestaltet. Noch ist die Frage offen, wie lange die Regierungen in der Lage sein werden, Beschränkungen auf Kosten wirtschaftlicher Aktivität und gegen sozialen Widerstand durchsetzen zu können. Wie die Wahlen in den USA gezeigt haben, wird das Krisenmanagement der jetzigen Amtsinhaber für die Wähler entscheidend sein. Im Jahr 2021 finden Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen unter anderem in Deutschland, Japan, den Niederlanden, Tschechien, Chile und Peru statt. Die versprochenen Lockerungen für die Weihnachtszeit lassen vermuten, dass die Regierungen vor allem eine Abnahme der sozialen Akzeptanz fürchten. Die bisher gemachten Erfahrungen lassen vermuten, dass nach Weihnachten die Zahl der neuen Infektionen wieder ansteigen und eine neue Welle staatlicher Restriktionen auslösen wird. Vermutlich wird die Dynamik auch auf diese Weise weitergehen, bis Herdenimmunität durch Impfungen hergestellt ist.


1 Siehe dazu den Kommentar "Corona: Was Nudeln, Reis und Glockenkurven gemeinsam haben", und das Video "So enstehen Verlaufskurven".

2 Siehe Coletti, P., Poletto, C., Turbelin, C. et al. Verschiebungsmuster saisonaler Grippeepidemien. Sci Rep 8, 12786 (2018). https://doi.org/10.1038/s41598-018-30949-x

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