12.05.2020 - Kommentare

Dolce Vita auf Pump

von Thomas Mayer


Der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin hielt Geld für „geronnenen gesellschaftlichen Reichtum, geronnene gesellschaftliche Arbeit“. Doch lebte er in einer Zeit, in der Geld an Gold oder Silber gekoppelt und damit nicht beliebig vermehrbar war. Heute wird es von Banken in Zusammenarbeit mit ihren Zentralbanken über die Vergabe von Krediten geschaffen, die keiner natürlichen Beschränkung unterliegt. Das eröffnet eine neue Sichtweise. In Anlehnung an Lenin könnte man sagen, dass Ökonomen des heutigen „Mainstreams“ Geld als flüssige gesellschaftliche Arbeit sehen, die es gilt, in Arbeitsplätze gerinnen zu lassen. Deshalb sind sie schnell bei der Hand, zur Schaffung von Arbeitsplätzen den Schwengel der Kreditpumpe zu betätigen, um die Wirtschaft mit Geld zu fluten.

So auch in der Zeit der Corona Pandemie: Allein im März haben die Zentralbanken der USA, Eurozone, Japans und Chinas ihre Bilanzsumme um 12 Prozent auf 22,3 Billionen US Dollar ausgeweitet, um damit Kredite an Staaten und Banken zu finanzieren, die das Geld weiterreichen oder zur weiteren Geldschöpfung durch eigene Kreditvergabe nutzten. Das Geldmengenaggregat M1, das Bargeld und Sichteinlagen umfasst, ist in diesen Ländern im März um rund vier Prozent auf 30,6 Billionen US Dollar gestiegen.

Statt Inflation erwarten die Geldexperten wohl eher Dolce Vita auf Pump. Nach einer von der Europäischen Zentralbank regelmäßig durchgeführten Umfrage erwarten die befragen Volkswirte für den Euroraum eine Kerninflationsrate von nur 1,2 Prozent auf die Sicht von zwei Jahren und 1,6 Prozent auf lange Sicht. Auch die Finanzmärkte geben sich mehr als gelassen. Die sich aus der Renditedifferenz zwischen nominalen und inflationsindexierten Bundesanleihen ergebende Inflationserwartung für die mittelfristige Zukunft betrug zu Anfang dieses Jahres noch ein Prozent pro Jahr. Heute erwarten die Markteilnehmer gerade mal 0,3 Prozent. Vermutlich gehen sowohl die Ökonomen als auch die Finanzexperten davon aus, dass der starke Anstieg der Arbeitslosigkeit, der von den zur Bekämpfung der Pandemie ausgelösten „Lockdowns“ erzeugt wird, Löhne und Preise drücken wird. Frisch geschaffenes Geld, also „flüssige Arbeit“, soll dann in neue Beschäftigung gerinnen, statt Inflation zu entfesseln.

Allerdings entsteht die Arbeitslosigkeit im „Lockdown“ nicht durch einen Einbruch der Nachfrage, sondern durch Arbeitsbeschränkungen, die zur Stilllegung von Produktionskapazitäten führen. Angebot und Nachfrage fallen also gleichermaßen. Durch kreditfinanzierte staatliche Zuwendungen und direkte Bankkredite wird die potenzielle Nachfrage gestützt. Manche Dienstleistungen können später nicht nachgeholt werden, aber die Nachfrage nach vielen anderen Gütern wird verschoben. Solange die Arbeitsbeschränkungen andauern, baut sich ein Nachfrageüberhang auf. Werden die Arbeitsbeschränkungen gelockert, ist es fraglich, ob das Angebot entsprechend elastisch reagiert, damit der Nachfrageüberhang abgebaut und die laufende Nachfrage befriedigt werden können. Dies könnte der Fall sein, wenn die Struktur der Nachfrage nach der Lockerung gleich bleiben und folglich der Struktur des Angebots entsprechen würde. Das ist aber eher unwahrscheinlich. Vermutlich werden manche Güter nach der Krise dauerhaft mehr und andere weniger nachgefragt werden. Dadurch entsteht in bestimmten Bereichen eine Überschussnachfrage, während andere Bereiche teilweise obsolet werden. Insgesamt kann so das Angebotspotenzial sinken, während die Nachfrage aufgrund der umfangreichen Stützungsmaßnahmen in der Krise schnell wieder das Niveau vor der Krise erreicht. Preissteigerungen und steigende Inflationserwartungen wären die Folge.

Es sei denn, die Leute würden das neu geschaffene Geld horten, statt auszugeben. Viele Ökonomen befürchten dies, warnte doch Großmeister Keynes vor einer „Liquiditätsfalle“. In der Theorie schnappt diese Falle zu, wenn die Konsumenten sinkende Preise erwarten. Denn dann lohnt es sich, nur das jeweils Nötigste zu kaufen und größere Anschaffungen in die Zukunft zu verschieben, wenn das Gewünschte billiger zu haben ist. Auch erhöhte Unsicherheit über die eigene wirtschaftliche Zukunft könnte die Konsumenten veranlassen, aus Vorsicht Geld zu horten. In der Praxis sind diese Phänomene jedoch selten. Preise müssten schon sehr schnell fallen, um die Leute dazu zu bringen, Konsum in die Zukunft zu verschieben. Auch dürfte mit dem Abklingen der Pandemie die Zuversicht eher zu als abnehmen. Und wenn auch all dies nicht zutrifft, so ist doch eines sicher: Die Zentralbanken würden den Geldregen auch zum Wolkenbruch ausweiten, um die Inflation nach oben zu treiben. Denn Inflation ist nötig, um die Schuldenlast tragbar zu machen und Massenbankrotte zu verhindern.

Wurde Geld im Verständnis der Betrachter im Lauf der Zeit von „geronnener“ zu „flüssiger“ Arbeit, so steht nun eine weitere Wandlung an: zu Schwundgeld zur Rettung der Schuldner. Lenin hätte es gefreut, sah er doch in der Zerstörung des Geldes ein Mittel zur Vernichtung des Kapitalismus.

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