26.08.2019 - Kommentare

Lauter ungelöste Probleme

von Norbert F. Tofall


Un­gelöste Probleme und gezielte Problem­verschleppungen scheinen zuzunehmen. Der Westen hat seine freiheitlichen Grundlagen aus den Augen verloren und damit seinen Kompaß für Problemlösungen.

Italien und die EU; der Brexit und der Backstop; Hongkong und China; der Handelsstreit zwischen China und den USA; Trumps Angriffe auf Europa in Sachen Handel und Verteidigung; das Verhältnis zwischen Russland und dem Westen; der Streit zwischen Iran und den USA und die für die Ölwirtschaft bedeutende Meerenge von Hormus; die Lage in Syrien und Russlands dortige militärische Rolle; eine Türkei im Bann von Erdogans Voodoo-Ökonomie und im Streit mit den USA und Europa; Nord-Koreas Atomprogramm… und weltweit eine ultralockere Geldpolitik, mehr Schulden und trübe Konjunkturaussichten. Dazu kommt, daß Anti-Kapitalismus, Anti-Universalismus und Globalisierungsfeindlichkeit weltweit auf dem Vormarsch sind. Die ungelösten und ungeklärten Probleme häufen sich. Einige dieser Probleme sind für die Weltwirtschaftslage bedeutsam, einige weniger, zumindest wenn sie als Einzelfall betrachtet werden. Probleme gab es zu allen Zeiten. Die ungelösten Probleme und die gezielten Problemverschleppungen scheinen jedoch zuzunehmen.

Italiens systemische Probleme mit den Euro-Regeln werden unabhängig von der derzeitigen Regierungskrise in Italien bestehen bleiben und unabhängig davon, ob Ende Oktober Neuwahlen in Italien stattfinden, aus denen Matteo Salvini als Sieger und neuer Regierungschef hervorgehen könnte, oder ob vorerst keine Neuwahlen stattfinden, weil es den Fünf-Sternen zusammen mit der sozialdemokratischen PD gelingt, eine neue Regierungsmehrheit im Parlament zu organisieren. Es gibt zur Zeit in Italien keine Partei, die schmerzhafte ökonomische Bereinigungsprogramme befürwortet und sich für die strikte Einhaltung der Euro-Verschuldungsregeln einsetzt. Lediglich die Tonlage und das Auftreten gegenüber der EU-Kommission sind anders. Solange die EZB und die restlichen Euroländer die Eurozone „whatever it takes“ zusammenhalten wollen, wird der Euro weiter lirarisiert werden und die Problemverschleppungen in der Eurozone werden sich fortsetzen. Eine Problemlösung wäre durch eine durchgreifende Geldsystemreform, eine Entschuldung des Euroraumes und eine Neuaufstellung des Euros in einem Regime des Wettbewerbs mit Privat- und Kryptowährungen zwar durchaus möglich.1 Hierfür gibt es zur Zeit jedoch weder auf europäischer Ebene noch in den einzelnen Euromitgliedsländern politische Mehrheiten.

Das größte ökonomische Risiko des Brexits besteht nicht darin, ob der Brexit mit oder ohne Austrittsvertrag erfolgt, wobei die Übergangsprobleme und Kosten bei einem harten Brexit natürlich größer sind als bei einem weichen. Das größte ökonomische Risiko des Brexits besteht darin, ob es Großbritannien nach dem Austritt aus der EU wirtschaftspolitisch gelingen wird, sich als attraktiver Wirtschaftsstandort so aufzustellen, daß die Nachteile durch das Ausscheiden aus dem Binnenmarkt durch interne Abwertungen zur Erhöhung der Standortattraktivität zumindest ausgeglichen und im Idealfall überkompensiert werden. Die Anstrengungen hierzu dürften nicht nur mit denen der Thatcher-Revolution vergleichbar sein, sondern könnten diese sogar übersteigen. Hierfür sind im britischen Parlament zur Zeit jedoch keine politischen Mehrheiten erkennbar.

Die Auseinandersetzung zwischen Hongkong und China zeigt, daß die chinesische Parteidiktatur systembedingte Probleme mit politischen und individuellen Freiheitsrechten und unabhängigen rechtsstaatlichen Strukturen hat, welche Hongkong zwar vertraglich zugestanden wurden, aber von China heute Schritt für Schritt eingeengt werden. Der Fall Hongkong ist für China nicht nur deshalb problematisch, weil Hongkong ein Landesteil von China ist. Wenn der Grundsatz „Ein Land, zwei Systeme“ von Peking wirklich ernstgenommen würde, dann könnte die chinesische Parteidiktatur die Proteste in Hongkong stoisch ertragen; denn die Proteste gehörten dann eben einfach zum anderen System. Die anhaltenden Proteste in Hongkong sind für die chinesische Parteidiktatur aber vor allem deshalb ein großes Problem, weil durch diese Proteste die Ideologie der KPCh – wirtschaftlicher Wohlstand und die dafür notwendigen Elemente wirtschaftlicher Freiheit seien auf Dauer ohne politisch-gesellschaftliche Freiheit möglich – offensiv in Frage gestellt wird. Das „kleine“ System Hongkong wird damit zur Gefahr des „großen“ Systems der chinesischen Parteidiktatur und seiner freiheitsfeindlichen Ideologie. US-Präsident Trump hat durch einen Tweet die Finger in diesen Systemwiderspruch gelegt und darüber hinaus die Lage noch verschärft, indem er Fortschritte im Handelsstreit mit China vom Verhalten der chinesischen Parteidiktatur in Sachen Hongkong abhängig macht.

Wie so oft hat Donald Trump auch in dieser Frage als erfolgreicher Demaskierer von „politisch korrekten“ Tabus, von öffentlichen Sprechverboten und von dominierenden Mainstream-Nar­rativen gehandelt. Die Demaskierung und Zerstörung von „politisch korrekten“ Tabus, von öffentlichen Sprechverboten und von dominierenden Mainstream-Narrativen führt jedoch noch lange nicht zur Lösung von ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Problemen und zur Beendigung der sich kumulierenden Problemverschleppungen. Sie kann sogar zu Schein­lösungen führen, durch welche die realen Probleme gerade nicht gelöst, sondern weiter verschleppt werden. Zur Lösung von politischen und gesellschaftlichen Problemen und zur Beendigung von sich kumulierenden Problemverschleppungen bedarf es sowohl durchdachter und schlüssiger Reformkonzepte als auch ein tieferes Verständnis von politischen Machtkonstellationen auf nationaler und internationaler Ebene.2 Aber sowohl durchdachte und schlüssige Reformkonzepte als auch ein tieferes Verständnis von politischen Machtkonstellationen scheinen zur Zeit weltweit Mangelware zu sein.

Anstatt daß der Westen auf die chinesische Herausforderung geschlossen und durchdacht mit dem Aufbau von Gegenmacht antwortet, so daß China mehr und mehr in eine Lage gedrängt wird, das gleiche Recht für alle im Welthandel und in den internationalen Beziehungen anerkennen zu müssen, meint Präsident Trump, daß er China ganz allein und ohne Europa in die Knie zwingen könnte. Trumps Schutzzoll Furor ist darüber hinaus auch gegen die EU gerichtet. Im Ergebnis führt diese Politik sogar zu einem Zerfall von Gegenmachtpotential. Denn unabhängig davon, daß Trump durch Schutzzölle die ökonomischen Probleme der US-amerikanischen Volkswirtschaft nicht lösen, sondern weiter verschleppen wird, hat Trump durch die Aussetzung der TTIP-Verhandlungen zwischen den USA und Europa und der Nichtunterzeichnung des pazifischen Freihandelsabkommens TPP dem größten geopolitischen Konkurrenten der USA, der Volksrepublik China, geradezu den Weg freigeräumt, um geopolitisch immer weiteren Raum und Gewicht gewinnen zu können. TTIP und TPP wären jedoch wirksame geopolitische Maßnahmen zum Aufbau von Gegenmacht gegen China. Leider scheint in den transatlantischen Beziehungen zwischen den USA und Europa der politische Wille zu fehlen, eine gemeinsame Gegenmacht des Westens aufzubauen. Ohne eine gemeinsame Gegenmacht des Westens dürften jedoch weder die chinesische Herausforderung noch andere Probleme der internationalen Beziehungen zu lösen sein.

Das zeigt sich auch bei den sicherheitspolitischen Problemen Syrien und Iran. Trump will zwar zurecht die Macht des Irans in der Region und in Syrien begrenzen, dürfte den Iran durch die Aufkündigung des Atomabkommens aber weiter in die Arme von Russland und China getrieben haben. Zudem hat Trump durch die Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran die Machtstellung von Frankreich, Großbritannien und Deutschland und damit die Machtstellung des westlichen Bündnisses unterminiert, das ohnehin bereits deutliche Risse aufweist. Entsprechend zurückhaltend sind diese Länder deshalb bei der Beteiligung an militärischen Missionen, um den freien Öltransport in der Straße von Hormus zu sichern. Und Russland konnte durch den Syrienkonflikt seine Macht in der gesamten Region des Nahen- und Mittleren Ostens bereits ausbauen, was auf mittlere Sicht sicherlich nicht zu Befriedung dieser Region beitragen wird.

Lauter ungelöste Probleme! Aber was könnte die Ursache dafür sein, daß alle diese Probleme, die sehr unterschiedlich sind und nur teilweise etwas miteinander zu tun haben, sich im Moment nicht lösen zu scheinen lassen? Meine These lautet, daß wir sowohl in den einzelnen westlichen Gesellschaften aber auch in den Beziehungen zwischen den westlichen Gesellschaften die freiheitlichen Grundlagen unserer Gesellschaftsordnung aus den Augen verloren haben und damit den Kompaß und die Blaupause für Problemlösungen. Wir meinen, daß diese Grundlagen selbstverständlich gegeben sind, und haben verlernt, daß der Erhalt von Recht und Freiheit und Wohlstand mit Anstrengungen verbunden ist. Für Recht und Freiheit muß täglich gekämpft werden. Und für Bündnisse zwischen Staaten muß täglich etwas geleistet werden. Da reichen keine schönen Worte. Taten wie die Einhaltung eines 2-Prozent-Beitragsziels für die NATO sind das Minimum. Und der Wohlstand einer Gesellschaft ist täglich zu erarbeiten und kann nur erhalten werden, wenn unpopuläre ökonomische Bereinigungsprozesse auch zugelassen werden. Aber vermutlich hat die unbereinigte Finanzkrise von 2007/2008, die durch billiges Geld und Null- und Negativzinsen weiter und weiter verschleppt wird, auch in anderen Politikbereichen die gefährliche Illusion gespeist, daß die Lösung von Problemen nicht mit Kosten und Anstrengungen für die Menschen verbunden ist. Wir können deshalb nur hoffen, daß der Westen möglichst bald aus dieser Illusion erwachen wird.

 


1 Siehe ausführlich Thomas Mayer und Norbert F. Tofall: Währungswettbewerb zur Rettung des Euro, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 31. Oktober 2018; online abrufbar unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/waehrungswettbewerb-zur-rettung-des-euro/

2 Vgl. Norbert F. Tofall: Donald Trumps weltweiter Furor, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 27. April 2019, S. 5; online abrufbar unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/donald-trumps-weltweiter-furor/

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