18.10.2019 - Kommentare

Schulden, Schulden, Schulden

von Norbert F. Tofall


In seinem jüngsten Global Financial Stability Report vom 16. Oktober 2019 stellt der Internationale Währungsfonds (IWF) fest, daß die weltweit praktizierte lockere Geldpolitik zwar kurzfristig das Wirtschaftswachstum gestützt und Abwärtsrisiken begrenzt habe. Gleichzeitig habe die lockere Geldpolitik jedoch zu mehr „financial risk-taking“ und zum weiteren Aufbau von finanziellen Risikoschwachstellen (financial vulnerabilities) geführt, was mittelfristig das Wirtschaftswachstum gefährde.1 Das heißt mit anderen Worten, daß sich die Risiken für die Finanzstabilität im Laufe des letzten Jahres abermals erhöht haben und unser Finanzsystem noch fragiler geworden ist. Denn bereits im Oktober 2018 stellte der IWF fest, daß die mittelfristigen Risiken für die Finanzstabilität nach wie vor hoch seien, daß die Verschuldung des nicht-finanziellen Sektors in Ländern mit systemisch relevanten Finanzsektoren ein Allzeithoch von 250 Prozent im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt erreicht habe und daß die Verschuldung schneller gestiegen sei als das Wirtschaftswachstum.2 Und bereits im Oktober 2017 schrieb der IWF:

“Leverage in the nonfinancial sector has increased since 2006 in many G20 economies and easy financing conditions. While this has helped facilitate the recovery in aggregate demand, it has also made the nonfinancial sector more sensitive to changes in interest rates. Private sector debt service burdens have increased in several major economies as leverage has risen, despite declining borrowing costs. Debt servicing pressure could mount further if leverage continues to grow and could lead to greater credit risk in the financial system.”3

Zwei Jahre später zeigt der IWF in seinem aktuellen Finanzstabilitätsbericht auf, daß der „debt servicing pressure“ nicht gesunken ist. Die drei Hauptrisiken des globalen Finanzsystems beständen erstens in steigenden Schuldenlasten der Unternehmen, zweitens in wachsenden Beständen von risikoreichen und mehr illiquiden Assets, die von institutionellen Investoren gehalten werden, sowie drittens in einer stärkeren Abhängigkeit der Schwellenländer von Auslandskrediten.4

Leider problematisiert der IWF jedoch auch in seinem diesjährigen Global Financial Stability Report nicht, daß sich erhöhte finanzielle Risiken eigentlich in erhöhten Risikoaufschlägen in Form von höheren Zinsen niederschlagen müßten, wenn der Finanzbereich noch auf marktwirtschaftlichen Prinzipien basieren und sich der Zins frei bilden würde. Der IWF stellt zwar fest, daß die lockere Geldpolitik der Zentralbanken dazu geführt habe, daß die Menge der Anleihen mit negativen Renditen auf 15 Billionen Dollar angewachsen sei und daß die Investoren nun sehr niedrige Zinsen für eine längere Zeit – lower for longer – erwarten würden. Der IWF ignoriert jedoch, daß gerade durch diese Null- und Negativ-Zinspolitik die von ihm selbst festgestellten erhöhten Risiken für die Finanzstabilität überhaupt erst erzeugt werden. Die Erhöhung der weltweiten Verschuldung beruht maßgeblich auf dieser Null- und Negativ-Zinspolitik. Bei höheren, risikoadäquaten Zinsen würde eine die Finanzstabilität gefährdende erhöhte Verschuldung von vornherein begrenzt. Denn ein frei sich auf dem Kapitalmarkt bildender Zins wirkt wie eine Schuldenbremse. Wird der Zins jedoch nach unten manipuliert, dann ist eine erhöhte risikoreiche Verschuldung die natürliche Folge.

Gegen die Argumentation, daß die heutigen Zinsen künstlich und absichtlich von den Zentralbanken nach unten manipuliert werden, wird oftmals vorgetragen, daß die westlichen Gesellschaften unter einer Ersparnisschwemme leiden würden, daß es also mehr Ersparnisse geben würde als rentierliche Investitionsobjekte, so daß in der Folge, da Ersparnisse zur Zeit nicht knapp seien, die Zinsen sinken und sehr niedrig oder sogar negativ sein würden. Die Zentralbanken würden dieser Entwicklungen nur folgen und die Zinsen nicht entscheidend nach unten manipulieren.5

Gesetzt den Fall, diese Argumentation sei richtig und die Zentralbanken würden die Zinsen nicht künstlich und absichtlich nach unten manipulieren: Dann stellt sich in Anbetracht der letzten Finanzstabilitätsberichte des IWF allerdings die Frage, wieso die Verschuldungsrekorde der letzten Jahre überhaupt ein Problem darstellen und die Finanzstabilität gefährden, wovon zumindest der IWF ausgeht. Denn wenn wir eine Ersparnisschwemme haben sollten, dann kann daraus doch keine die finanziellen Risiken erhöhende und die Finanzstabilität gefährdende Überschuldung von Unternehmen und Staaten folgen. Aus der Ersparnisschwemme folgen zwar höhere Schulden bei niedrigeren Zinsen; aber wieso soll das ein Problem sein, wenn der Preis für die Schulden der richtige ist, weil er aus dem Angebot von Ersparnissen und der Nachfrage nach Krediten hervorgeht. Die Schulden haben dann die angemessene Höhe und den angemessenen Preis und sind tragfähig. Wieso sollen höhere Risiken die Folge sein?

Daß heißt, entweder der IWF und die westlichen Gesellschaften leiden seit Jahren an einer Risikohysterie – oder an der These, daß die Zentralbanken den Zins nicht künstlich nach unten manipulieren und nur die Ersparnisschwemme in ihrer Geldpolitik berücksichtigen, stimmt etwas nicht. Auf jeden Fall sollte in der Theorie von der Ersparnisschwemme der Kurzschluß kritisch betrachtet werden, der meines Erachtens darin besteht, daß die Ersparnisbildung im Sinne der Kapitaltheorie von Eugen von Böhm-Bawerk mit Geld gleichgesetzt wird. Die Geldschöpfung durch Kredit gerät dadurch aus dem Blick, obwohl es sich bei unserem herrschenden Geldsystem um ein Kreditgeldsystem handelt. In einem Kreditgeldsystem sind die intertemporale Kapitalallokation und die Kreditgeldschöpfung jedoch meistens entkoppelt, was sogar zu Kapitalaufzehrung6 führen kann. Letztlich läuft so die These von der Ersparnisschwemme auf eine Verwechslung von Geld und Kapital und eine Verharmlosung der Verschuldung hinaus. Eine weltweite Investitionsschwäche und geringe Produktivitätssteigungen sind die Folge.


1 Siehe International Monetary Fund: Global Financial Stability Report October 2019: Lower for longer, p. viii.

2 Vgl. International Monetary Fund: Global Financial Stability Report October 2018: A Decade after the Global Financial Crisis: Are we Safer?. p. viii.

3Global Financial Stability ReportOctober 2017, p. 32.

4 Siehe International Monetary Fund: Global Financial Stability Report October 2019: Lower for longer, p. ix.

5 Siehe beispielsweise Carl Christian von Weizsäcker und Hagen Krämer: Sparen und Investieren im 21. Jahrhundert. Die Große Divergenz, Wiesbaden (Springer Gabler) 2019.

6 Siehe allgemein Friedrich August von Hayek: „Kapitalaufzehrung“ (1932), in: Friedrich A. von Hayek: Geld und Konjunktur, Band II: Schriften 1929 -  1969, herausgegeben von Hansjörg Klausinger, Tübingen 2016, S. 193 – 215.

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