25.01.2019 - Kommentare

Was ist der Wille des Volkes?

von Norbert F. Tofall


Wenn niemand den Willen des Volkes kennen kann, dann gilt generell, daß die Staatstätigkeit auf die Bedingungen beschränkt werden sollte, unter denen der Wille des einen Menschen mit dem Willen des anderen nebeneinander bestehen kann.

Was ist der Wille von über 80 Millionen Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland? Was ist der Wille von 67 Millionen Einwohnern von Frankreich? Was der Wille von 60 Millionen Einwohnern Großbritanniens? Was der Wille von 328 Millionen Einwohnern der Vereinigten Staaten von Amerika?

Bei der Bundestagswahl im September 2017 wählten 53,4 Prozent der deutschen Wähler die Parteien der derzeitigen Regierungskoalition in Berlin; 46,6 Prozent der Wähler gaben anderen Parteien ihre Stimme. Nur 12,6 Prozent der deutschen Wähler wählten die AfD, die öfter beansprucht, den eigentlichen Willen der Deutschen zu vertreten. 87,4 Prozent der deutschen Wähler haben sie bei der Bundestagswahl trotzdem nicht gewählt. Wer repräsentiert den Willen des deutschen Volkes?

Emmanuel Macron bekam im ersten Wahlgang der französischen Präsidentenwahlen 24,01 Prozent der Stimmen, Marine Le Pen vom Front National 21,30 Prozent. Es gab insgesamt 11 Kandidaten. In der Stichwahl zwischen Macron und Le Pen am 7. Mai 2017 wurde Emmanuel Macron mit 66,10 Prozent der Stimmen zum Präsidenten Frankreichs gewählt. Viele der im ersten Wahlgang unterlegenen Präsidentschaftskandidaten hatten dazu aufgerufen, Macron im zweiten Wahlgang zu wählen, um Marine Le Pen zu verhindern. Im Juni 2017 gewann Macrons Partei En Marche bei den Parlamentswahlen 309 von 577 Sitzen in der französischen Nationalversammlung; 268 Sitze gingen an andere Parteien. Die Gelbwestenbewegung, die Frankreich seit dem Herbst 2018 mit gewalttätigen Protesten in Atem hält, wurde von niemandem in freien, gleichen und geheimen Wahlen gewählt. Wer repräsentiert den Willen des französischen Volkes?

Am 23. Juni 2016 stimmten knapp 52 Prozent der abstimmenden Bürger Großbritanniens für den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union; 48 Prozent stimmten dagegen. Mitte Januar 2019 lehnte das britische Parlament den von Premierministerin Theresa May ausgehandelten Austrittsvertrag mit der EU mit 432 Nein-Stimmen bei nur lediglich 202 Ja-Stimmen ab. Im britischen Parlament scheint es zur Zeit keine Mehrheit für den Brexit-Deal zu geben, den May mit der EU ausgehandelt hat. Allerdings scheint es im britischen Parlament im Moment auch keine Mehrheit für eine alternative Position zu geben. Es gibt Remainers, die ein neues Referendum wollen, um den Brexit vollständig abzuwenden. Es gibt Hard-Brexiters, die am 29. März 2019 ohne Deal die EU verlassen wollen. Und es gibt viele Abgeordnete, die aus vielen unterschiedlichen Gründen Mays Brexit-Deal für einen schlechten und unfertigen Deal halten und einen besseren Deal wollen. Wer repräsentiert den Willen der Briten? Die knapp 52 Prozent der Abstimmenden, die für einen Brexit gestimmt haben? Wo bleiben die anderen 48 Prozent? Gehören die nicht mehr zum britischen Volk?

Und die gleiche Frage stellt sich für die USA. Donald Trump wurde zwar am 8. November 2016 mit 304 Wahlmännern - bei 227 Wahlmännern für Hillary Clinton - zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt, Hillary Clinton hatte jedoch knapp 3 Millionen Stimmen mehr erhalten. Clinton erhielt 48,18 Prozent der abgegebenen Stimmen und Trump nur 46,09 Prozent. Bei den Zwischenwahlen am 6. November 2018 eroberten die Demokraten das Repräsentantenhaus, während die Republikaner im Senat ihre Mehrheit ausbauen konnten. Wer repräsentiert den Willen der US-Amerikaner? Präsident Trump, die Mehrheitsführerin im Repräsentantenhaus Pelosi, der von den Republikanern beherrschte Senat? Oder vielleicht doch alle zusammen?

Niemand kann wissen, was der Wille von über 80 Millionen Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland, von 67 Millionen Einwohnern Frankreichs, von 60 Millionen Einwohnern Großbritanniens und von 328 Millionen Einwohnern der Vereinigten Staaten von Amerika ist. Der individuelle Wille von über 80 Millionen Einwohnern der Bundesrepublik Deutschland kann nicht aggregiert werden. Und das ist in Frankreich, Großbritannien, den USA und überall auf der Welt so. Wenn der Wille des Volkes aggregiert und erkannt werden könnte, benötigten wir keine demokratischen Entscheidungsverfahren. Und demokratische Entscheidungsverfahren sind keine wissenschaftlichen Erkenntnisverfahren zur Aggregation von Millionen individueller Präferenzen, sondern politische Legitimationsverfahren, also Verfahren zur Legitimation politischer Herrschaft, die auf begrenzte Zeit verliehen wird.

Wo sich das Wissen angemaßt wird, den Willen des Volkes aggregieren und erkennen zu können, wird sich in der Regel ein Alleinvertretungsanspruch zugestanden. Und es werden – sobald man an der Macht ist – demokratische Entscheidungsverfahren abgeschafft oder unterdrückt. Deshalb ist es auch nur konsequent, daß die Einparteiendiktatur in China jegliche Ansätze von Demokratisierung der Politik und politisch-gesellschaftliche Freiheit im Keim zu ersticken versucht.

Aber bleiben wir bei den westlichen Gesellschaften: Das Problem vieler populistischer Parteien und Bewegungen von links und rechts, die seit der unbereinigten Finanzkrise von 2007/2008 wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, besteht nicht darin, den etablierten Parteien und Bewegungen Konkurrenz zu machen. Das ist mehr als legitim, zumal die Polarisierung in den westlichen Gesellschaften durch Problemverschleppung entstanden ist. Problematisch ist jedoch, daß sich viele dieser populistischen Parteien von links und rechts anmaßen, die wahren Interessen des Volkes erkannt zu haben und zu vertreten. In Anbetracht dieser wahren Interessen des Volkes, in Anbetracht des wahren Willens des Volkes, sei der politische Gegner ein Volksverräter, der ins Gefängnis gehöre.

Mit diesem Furor soll aber nicht nur der politische Gegner moralisch diskreditiert werden. Dieser Furor läßt sich auch leicht zur Delegitimierung der politischen Institutionen und demokratischen Verfahren und zum Angriff auf „das System“ steigern. Sachfragen werden in diesem Spiel dann mehr und mehr als Vehikel im Kampf gegen das Establishment und „das System“ mißbraucht. Kompromisse zur Lösung dieser Sachfragen rücken in weite Ferne.

Wenn aber niemand den Willen des Volkes kennen kann, dann gilt generell, daß die Staatstätigkeit auf die Herstellung und Sicherung der Bedingungen beschränkt werden sollte, unter denen der Wille des einen Menschen mit dem Willen des anderen Menschen unter einem allgemeinen Gesetz der Freiheit nebeneinander bestehen kann.

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