11.06.2021 - Kommentare

Zur politischen Lage vor der Bundestagswahl

von Norbert F. Tofall


Das Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt vom 6. Juni 2021 kann nur sehr begrenzt auf die gesamtdeutsche politische Lage übertragen werden. Sachsen-Anhalt hat erstens als ostdeutsches Bundesland spezielle politische Problemlagen, aus denen andere politische Schwerpunkthemen folgen als auf Bundesebene. Zweitens sind 1,8 Millionen Wahlberechtigte, von denen ca. 60 Prozent ihre Stimme abgegeben haben, für den Ausgang der Bundestagswahl im September von untergeordneter Bedeutung. Und drittens sind Parteiloyalitäten noch geringer ausgeprägt als in westlichen Bundesländern. Nichtsdestotrotz könnte das Wahlergebnis in Sachsen-Anhalt ein erster Hinweis dafür sein, daß die bisherigen Gewinner der politischen und gesellschaftlichen Polarisierung, die AfD einerseits und die Grünen andererseits,1 an ihre Grenzen stoßen könnten. Denn wenn selbst in einem ostdeutschen Bundesland, in welchem die politische und gesellschaftliche Polarisierung deutlich ausgeprägter ist als in den westlichen Bundesländern, die AfD nicht zulegen kann, sondern sogar 3,5 Prozentpunkte verliert, und die Grünen zwar leicht (unter einem Prozentpunkt) gewinnen, aber nicht einmal in die Nähe des zweistelligen Bereichs kommen, dann stellt sich die Frage, wieso diese Parteien bei der Bundestagswahl im September in weniger polarisierten und einwohnerstärkeren Bundesländern und im Bundesdurchschnitt die von ihnen selbst verkündeten Ziele erreichen sollten.

Bezüglich der AfD ist die Einschätzung einfacher, bezüglich der Grünen ist eine Antwort schwieriger. Beide Antworten hängen jedoch mit der Änderung der deutschen Parteienlandschaft in den letzten Jahren zusammen.2

I.

Die AfD konnte sich ab 2013 als sechste Partei bzw. als siebte Partei, wenn man die Union als zwei Parteien zählt, in der Bundesrepublik Deutschland etablieren, weil sie in ihrer Gründungsphase zwischen 2013 und 2015 neben ihrem damaligen Gründungsthema, der Kritik an der Euro-Rettungspolitik, und der sich seit der Finanzkrise von 2007/2008 entwickelnden Polarisierung durch Problemverschleppung von zwei jahrzehntelangen Leerstellen im deutschen Parteigefüge profitierte. Vom Standpunkt der politischen Philosophie aus betrachtet waren in der Bundesrepublik Deutschland die Stellen einer nationalkonservativen Partei und die einer konsequent klassisch-liberalen Partei3 jahrzehntelang unbesetzt. Da die politischen Philosophien „Nationalkonservativismus“ und „klassischer Liberalismus“ jedoch unvereinbar sind, war die Spaltung der AfD im Sommer 2015 mit den Austritten von Bernd Lucke, Joachim Starbatty, Hans-Olaf Henkel und anderen Konservativ-Liberalen absehbar. Bereits im Januar 2014 kamen erste Gerüchte auf, daß die Konservativ-Liberalen die AfD verlassen wollen.4

Die AfD wäre bereits 2015 am Ende gewesen, wenn sie nicht im gleichen Sommer durch die „Torheit der Regierenden“ in der Flüchtlingspolitik wiederbelebt worden wäre. Erst durch die Flüchtlingspolitik fand die AfD ihr eigentliches inhaltliches Zentrum. Entsprechend stellte sich die AfD seit 2015 als eine natio­nalkon­servative oder genauer: deutsch­nationale Partei mit sozialdemokratischer Zukunftsausrichtung und Restbe­stän­den libertärer Pro­grammatik dar,5 welche dann durch die ausgebliebene Abgrenzung vom sogenannten Höcke-Flügel seit Januar 2017 zunehmend durch völkische Positionen bestimmt wurde. Diese Hegemonie völkischer Positionen geht inzwischen so weit, daß heute sowohl einzelne Landesverbände der AfD als auch der Bundesverband der Jungen Alternative vom Verfassungsschutz beobachtet werden.

Politisch strategisch bedeutet diese Entwicklung, daß die AfD seit 2015 und zunehmend seit 2017 und endgültig durch die Beobachtung einzelner Landesverbände durch den Verfassungsschutz nicht mehr ansatzweise koalitionsfähig ist. Die fortschreitende Radikalisierung der AfD hat zur strukturellen Koalitionsunfähigkeit geführt. Wäre bis 2015 eine Koalition rechts der Mitte zumindest noch denkbar gewesen und damit die von der AfD geforderte Alternative zur langjährigen Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel, so hat die Entwicklung der AfD seit 2015 die Macht von Angela Merkel geradezu stabilisiert. Jede Stimme von bürgerlichen Protestwählern für die AfD führte dazu, daß Angela Merkel eine noch rot-grünere Politik zu verfolgen bereit war und auch verfolgte, damit sie ihre Macht durch entsprechende Koalitionen erhalten konnte: In den Sondierungsgesprächen zu einer Jamaika-Koalition 2017 war sie bereit, den Grünen alles zu geben, so daß die FDP aufgrund der zu großen Positionsunterschiede in der Europapolitik, der Energiepolitik und der Flüchtlingspolitik die Reißleine gezogen hatte und sich einer Regierungsbeteiligung unter Angela Merkel verweigerte. In der daraufhin gebildeten neuen schwarz-roten Koalition hat Angela Merkel bis heute fast alle Umverteilungs- und Ausgabenwünsche der SPD sowie deren Regulierungswut unterstützt. Vielleicht gibt es also neben der „Torheit der Regierenden“6 auch so etwas wie eine „Torheit der Protestwähler“, die mit ihrer Proteststimme am Ende und entgegen der eigenen Absichten genau das stärken, wogegen sie protestieren wollen. Die in den aktuellen Wahlumfragen ermittelten 10 bis 12 Prozent Wählerstimmen für die AfD auf Bundesebene sind deshalb nicht einfach nur „verlorene“ Stimmen, sondern fördern wegen der strukturellen Koalitionsunfähigkeit der AfD im Ergebnis die politische Durchsetzung von ganz anderen politischen Positionen.

II.

Die politische Lage in Deutschland vor der Bundestagswahl ist insgesamt durch eine Fragmentierung der Parteienlandschaft geprägt. Diese Änderung des Parteiengefüges zeigt sich nicht nur an der Anzahl der Parteien, sondern auch daran, daß heute eine Partei schon als Volkspartei gilt, wenn sie etwas über 30 Prozent der Wählerstimmen erhält. Das ist in den derzeitigen Umfragen nicht bei einer einzigen Partei der Fall, was sich bis zum 26. September aber noch ändern kann. Aus dieser Lage folgt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, daß für die Regierungsbildung nicht nur zwei, sondern drei Parteien benötigt werden. Das bedeutet auf der einen Seite, daß die einzelnen Parteien unter Umständen mehr Optionen in Form von mehr möglichen Koalitionspartnern haben. Auf der anderen Seite folgt für die einzelnen Parteien daraus aber auch der Zwang, mit Parteien aus anderen politischen Lagern koalieren zu müssen, was durch die strukturelle Koalitionsunfähigkeit der AfD noch gesteigert wird. Halbwegs realistisch sind nach der Bundestagswahl im September die folgenden Koalitionen:

  1. Schwarz-Grün
  2. Schwarz-Grün-Gelb
  3. Grün-Rot-Gelb
  4. Grün-Rot-Rot
  5. Schwarz-Gelb
  6. Schwarz-Gelb-Freie Wähler
  7. Schwarz-Rot

In dieser Situation haben sich die Grünen, weil sie über die letzten Monate hinweg in den Umfragen deutlich vor der SPD rangierten, für die Aufstellung eines Kanzlerkandidaten entschieden und damit das Ziel verkündet, erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland eine Bundesregierung anzuführen. Die Höchstwerte für die Grünen sind in den Umfragen in den letzten Tagen zwar von 28 Prozent auf 22 Prozent gefallen, aber selbst wenn sie bei der Bundestagswahl 2021 nur 18 Prozent erhalten, dann hätten sie ihr Wahlergebnis im Vergleich zur Bundestagswahl 2017 mehr als verdoppelt. Zudem könnten sie selbst mit 18 Prozent vor der SPD liegen. Unabhängig von der Frage, inwieweit die grüne Parteibasis an diesem Wochenende auf dem Bundesparteitag der Grünen ein politisch linkeres Wahlprogramm durchsetzen wird, stellt sich damit eine entscheidende Frage: Wieso sollten die Grünen als Juniorpartner in eine Bundesregierung unter Führung der CDU/CSU eintreten und damit ihr Wahlziel, den Bundeskanzler zu stellen, aufgeben, wenn eine Bundesregierung unter Führung der Grünen entweder in Form einer grün-rot-gelben Koalition oder einer grün-rot-roten Koalition rechnerisch möglich wäre?

Und was passiert, falls Sondierungsgespräche zu einer grün-rot-gelben Koalition scheitern, weil die FDP den Ausgaben- und Schuldenerhöhungsprogrammen, der Energiepolitik und der Europapolitik der Grünen und der SPD unter keinen Umständen zustimmen kann? Würden die Grünen, die gerade noch das Bundeskanzleramt in greifbarer Nähe gehabt hätten, dann anschließend als Juniorpartner unter Führung der Union eine Bundesregierung bilden? Wenn eine 2er-Koalition aus Union und Grünen möglich wäre, ist die Wahrscheinlich dafür sicher höher, als wenn eine 3er-Koalition aus Union, Grünen und FDP nötig wäre. Denn würden die Grünen überhaupt mit einer FDP koalieren wollen, die ihr kurz zuvor aufgrund unüberbrückbarer inhaltlich-programmatischer Differenzen die Eroberung des Bundeskanzleramtes verwehrt hat? In einer 3er-Koalition aus Union, Grünen und FDP müßte der Kanzlerkandidat der Union, Armin Laschet, der FDP deutlich mehr inhaltliche Zugeständnisse machen als Angela Merkel bei den Sondierungsgesprächen zu Jamaika 2017. Denn Armin Laschet müßte jederzeit damit rechnen, daß die FDP im Zweifelsfall wieder die Reißleine zieht. Die FDP könnte aber auch die programmatischen Forderungen geschickt so hochschrauben, daß die Grünen diesmal die Reißleine ziehen oder erhebliche Zugeständnisse machen müssen. Insgesamt würde Jamaika 2021 für die Grünen eine höchst unangenehme Angelegenheit werden.

Aus diesem Grund könnten sie sogar dazu neigen, eine grün-rot-rote Koalition unter grüner Führung zu bilden, falls das Wahlergebnis das ermöglichen sollte. Die Grünen würden dann erstmals den Bundeskanzler stellen und die Linkspartei wäre erstmals an einer Bundesregierung beteiligt. Diese Anreizstruktur könnte durchaus geeignet sein, daß die Linkspartei ihre außenpolitischen Positionen relativiert und zurückstellt, um erstmals bundespolitische Regierungsmacht und damit enormen personellen Einfluß in Bundesministerien zu erhalten.

Die politische Lage vor der Bundestagswahl ist also insgesamt alles andere als übersichtlich. Es ist alles andere als klar, zu welcher Regierungskoalition eine Wählerstimme beiträgt, solange es sich nicht um Stimmen für die AfD oder die Linkspartei handelt. Eine Stimme für die Linkspartei wird – wenn überhaupt – zu einer grün-rot-roten Koalition beitragen, eine Stimme für die AfD für keine der möglichen und halbwegs realistischen Koalitionen. Darüber hinaus können bereits fünfprozentige Wählerverschiebungen ein vollkommen anderes Bild ergeben. Höhere Wählerwanderungen sind aufgrund der insgesamt geringeren Parteienloyalitäten auch nicht unwahrscheinlich und damit vielleicht sogar eine schwarz-gelbe Koalition.

Die dargestellte unübersichtliche Lage dürfte sich zwar nach der Bundestagswahl dann etwas aufklären, falls die SPD nach der Bundestagswahl aus Gründen der dringend notwendigen Rekonvaleszenz bedingungslos in die Opposition gehen sollte. Die grün-rot-gelbe Ampel und eine grün-rot-rote Koalition wären dann sofort gestorben. Allerdings könnte sich nach der Bundestagswahl die Lage dadurch wieder anders darstellen, daß eine Partei, die zur Zeit in den Umfragen bei 3 Prozent liegt, durch die Erringung von drei Direktmandaten dann mit den gesamten unter 5 Prozent errungenen Stimmen in den Bundestag einzieht: die Freien Wähler. Dann wäre sogar eine 3er-Koalition aus Union, FDP und Freien Wählern denkbar.

Da Wählerverschiebungen von fünf Prozent ein vollkommen anderes Bild ergeben können, zählt bei der Bundestagswahl am 26. September 2021 jede Stimme. Zu welcher Koalition die einzelne Stimme jedoch beitragen wird, ist nicht abschätzbar, woraus folgt, daß ein traditioneller Lagerwahlkampf wie in den Zeiten der Volksparteien nicht geführt werden kann. Das heißt aber nicht, daß es keine politischen Lager mehr gibt. CDU/CSU, FDP und Freie Wähler können aufgrund ihrer programmatischen Nähe durchaus als ein politisches Lager bezeichnet werden, - ebenso Grüne, SPD und Linkspartei. Die AfD bildet aufgrund ihrer strukturellen Koalitionsunfähigkeit und fortschreitender Radikalisierung zudem ein weiteres Lager. Vermutlich können wir in den nächsten Wochen eine Art von Lagerwahlkampf beobachten, in welchem sich jedoch die entscheidenden Player nicht in Nibelungentreue an die Verwandten im eigenen Lager binden, weil die Notwendigkeit einer lagerübergreifenden Bildung einer neuen Bundesregierung niemand außer Acht lassen kann. Diese Situation dürfte für die Grünen erstmals größere Probleme mit sich bringen als für die FDP. Die Bundestagswahl am 26. September 2021 wird auf jeden Fall spannend.


1 Siehe Norbert F. Tofall: Gewinner der Polarisierung, Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 27. September 2019, online abrufbar unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/gewinner-der-polarisierung/

2 Siehe Norbert F. Tofall: Änderung der deutschen Parteienlandschaft, Studie zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute vom 10. Juni 2016, online abrufbar unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/aenderung-der-deutschen-parteienlandschaft/

3 Die FDP war seit ihrer Gründung nie eine klassisch liberale Partei, siehe u.a.: Norbert F. Tofall: „Die FDP hat vollkommen versagt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Oktober 2013, online abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/wirtschaft/wirtschaftspolitik/liberalismus-die-fdp-hat-voellig-versagt-12615688.html

4 Vgl. … Tofall … Änderung… ebenda S. 1.

5 Vgl. ebenda, S. 1-2.

6 Siehe Barbara Tuchman: Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam, aus dem Amerikanischen von Reinhard Kaiser, limitierte Sonderausgabe, Frankfurt a. M. (Fischer) 1997.

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