20.07.2022 - Kommentare

Auf der Suche nach dem verlorenen Zins

von Thomas Mayer


In den ersten zwei Jahrzehnten dieses Jahrhunderts schien der Zins an Schwindsucht zu leiden. Manche erklärten ihn schließlich für tot. Nun feiert er seine Wiederauferstehung. Wie sind diese schwankenden Ansichten in die längerfristige Entwicklung des Zinses einzuordnen? In diesem Beitrag vertrete ich die These, dass es gute Belege für einen Rückgang des Zinses in unserem Kulturkreis über die letzten 700 Jahre gibt. Allerdings dürften die in den letzten Jahren zu beobachtenden Negativzinsen eine von staatlichen Behörden erzwungene Ausnahmeerscheinung gewesen sein. Mittelfristig ist eine Rückkehr zu Trendwerten für den Realzins um die vier Prozent und den Nominalzins von etwas weniger als sechs Prozent wahrscheinlich.

Der erste Grabgesang auf den Zins

Von Januar 2002 bis Mai 2003 fiel die Rendite auf die zehnjährige US-Staatsanleihe von 6,7 auf 3,3 Prozent und machte in den folgenden zwei Jahren keine Anstalten, zu der vorigen Höhe zurückzukehren. Zur Erklärung des Zinsverfalls erfand der damalige Gouverneur der US-Federal Reserve Ben Bernanke in einer Rede im März 2005 den Begriff der „Sparschwemme“. i Einige Entwicklungsländer, darunter insbesondere China, würden mehr sparen als sie zur Finanzierung heimischer Investitionen brauchten und ihre Sparüberschüsse daher in die USA exportieren. Dies sei die Ursache für das hohe Leistungsbilanzdefizit und den niedrigen Zins in den USA, so Bernanke.

Der zweite Grabgesang auf den Zins

Acht Jahre später, nachdem die Kapitalexporte Chinas stark gefallen aber die Zinsen noch niedriger waren, erweiterte der ehemalige US-Finanzminister Larry Summers die These. Noch unter dem Eindruck der Finanzkrise von 2008/09 diagnostizierte er im November 2013 eine „säkulare Stagnation“ als Ursache für den Zinsverfall.ii Der zum Ausgleich von Ersparnissen und Investitionen notwendige Realzins könne sogar tief in den negativen Bereich gefallen sein, meinte Summers. Etwa zur gleichen Zeit schlug der deutsche Wirtschaftsprofessor Carl Christian von Weizsäcker in die gleiche Kerbe und machte in Anlehnung an Summers die Alterung der Bevölkerung für Sparschwemme und Negativzins verantwortlich.iii

Die Misstöne fallen nicht auf

Weder störte diese prominenten Ökonomen, dass die Idee eines „negativen Zinses“ ein ökonomisches Oxymoron ist. Denn wenn man der einzig sinnvollen und in der Geschichte gefestigten Definition des Zinses als „Preis der Zeit“ folgt und bedenkt, dass für jeden Menschen Zeit ein knappes Gut ist, dann muss dieser Preis logischerweise positiv sein.iv Noch hielten diese Ökonomen es für nötig, die Bedeutung der Zentralbanken für die Zinsbildung zu berücksichtigen.v Stattdessen übersahen sie geflissentlich die entsprechenden empirischen Belege für die Rolle der Zentralbanken bei der Gestaltung des Zinses.vi

Die erste geschichtliche Einordnung

Ein wesentlicher Grund für die haltlosen Behauptungen über den Zins dürfte gewesen sein, dass die in der Tradition des Großmeisters Paul Samuelson stehenden Ökonomen mit mathematischen Modellen die Welt abbilden und mit mathematischen Methoden (der Ökonometrie) geschichtliche Entwicklungen erfassen wollen. Da die menschliche Welt und Geschichte mit den Methoden der Mathematik jedoch nicht erklärt werden können, kommen sie zu absurden Schlüssen. Die Absurdität fällt vielen modernen Ökonomen nicht auf, weil sie den gesunden Menschenverstand oft an der Garderobe ihrer Universitäten abgegeben haben.

Notwendig ist dagegen eine unvoreingenommene geschichtliche Betrachtung vor dem Hintergrund ökonomischer Logik (die der österreichische Ökonom Ludwig von Mises „Praxeologie“ nannte). Die umfassendste und bekannteste Geschichte des Zinses über die vergangenen fünftausend Jahre legte Sidney Homer zuerst im Jahr 1963 vor. Später erweiterte er sie mit Richard Sylla.vii Der Zins, so meinten die Autoren, könnte den Aufstieg und Fall von Nationen, ja von ganzen Zivilisationen reflektieren: Hoch im Frühstadium der Entwicklung, solange noch höhere Unsicherheit über die Zukunft herrscht (und die Gegenwartspräferenz hoch ist), danach ein Rückgang, wenn mit zunehmendem Entwicklungsstand das Gefühl, in sicheren Zeiten zu leben, steigt (und die Menschen an eine gute Zukunft glauben), und schließlich ein erneuter scharfer Anstieg beim Abstieg oder Scheitern der Zivilisation, wenn die Unsicherheit über die Zukunft jäh nach oben schießt (und die Gegenwartspräferenz wieder steigt).

Sofern der Aufstieg und Niedergang historischer Zivilisationen mit einer positiven Entwicklung der Zivilisation insgesamt einher geht wäre eine langfristig fallende Tendenz der Zinsen plausibel. Doch würde diese Entwicklung auf natürliche Weise bei einer positiven Untergrenze des Zinses zum Ende kommen, da die Zeitpräferenz – der Preis der Zeit – der ökonomischen Logik folgend immer positiv sein muss.

Eine zweite geschichtliche Einordnung

Vor kurzem hat der in den USA forschende deutsche Wirtschaftshistoriker Paul Schmelzing lange Datenreihen für Zinsen in Europa von 1311 bis 2018 und in den USA und Japan ab dem 18. Jahrhundert erstellt.viii Er kommt zu dem Schluss, dass die mit den BIP-Anteilen der Länder gewichtete Durchschnitte dieser Zinsen in diesem Zeitraum sowohl in nominalen als auch realen Größen im Trend gefallen sind (Grafik 1). Obwohl Trendextrapolationen kaum Aussagekraft haben, betrachtet Schmelzing lineare Trendlinien und kommt am aktuellen Rand auf reale Trendwerte nahe null. Extrapolationen bis zum Ende dieses Jahrhundert zeigen je nach Stützperiode negative Werte ab 2027 bis ab 2084. Berechnet man jedoch logarithmische Trendlinien, bleiben die Trendwerte sowohl der realen als auch nominalen Zinsen am aktuellen Rand im positiven Bereich und stabilisieren sich dort auch in der Zukunft (Abbildung 1).

Weniger problematisch dürfte Schmelzings Einschätzung sein, dass die Entwicklungen der Zinsen seit dem Zweiten Weltkrieg als positive und negative Abweichungen vom langfristigen Trend und der Rückgang seit den frühen 1980er Jahren keinesfalls als Symptom einer „säkularen Stagnation“ interpretiert werden müssen.

Warum fällt der Zins seit dem 14. Jahrhundert?

Für den von Schmelzing beobachteten Zinsrückgang könnten mehrere Gründe verantwortlich sein. Versteht man den Zins als Preis der Zeit, so könnte dieser Preis fallen, wenn das Angebot an Zeit größer wird. Für den Einzelnen ist dies der Fall, wenn die Lebenserwartung steigt. Tatsächlich leben wir heute länger als im 14. Jahrhundert. Doch zeigt Abbildung 2, dass der Zins zu sinken begann, lange bevor die Lebenserwartung zu steigen begonnen hat.

Allerdings muss sich die Zeitpräferenz eines Individuums nicht unbedingt von seiner eigenen Lebenserwartung ableiten. Es könnte seine Nachfahren einbeziehen. Dies wäre konsistent mit der Beobachtung von Homer und Sylla, dass über die sehr lange Zeit der Auf- und Abstieg von Zivilisationen den Zins beeinflusst hat. Von dieser Warte aus gesehen könnte der Zinsrückgang in Europa, den USA und Japan seit dem 14. bzw. 18. Jahrhundert mit dem Aufstieg der westlichen Zivilisation (zu der in der jüngeren Vergangenheit auch Japan aufschloss) verbunden gewesen sein.

Mit dem Aufstieg der westlichen Zivilisation ging die Integration der Güter- und Finanzmärkte auf nationaler und internationaler Ebene einher. Erhöhte Integration stärkt den Wettbewerb und führt dadurch zu Preissenkungen. Im Finanzsektor führen zunehmende Arbitragemöglichkeiten zur Angleichung von Zinsen in verschiedenen Märkten und Verringerung des durchschnittlichen Zinses. Abbildung 3 zeigt Schmelzings Sammlung historischer Zinsdaten über verschiedene Länder und Emittenten. In der älteren Vergangenheit streuen die Daten stark. Im Verlauf der Zeit nimmt dann die Streuung ab und die Zinsdifferenzen werden kleiner. Dies zeigt in komprimierter Form auch Abbildung 4, in der zum Mittelwert der Zinsen auch die Standardabweichung wiedergegeben ist. Die (logarithmischen) Trendlinien von Mittelwert und Standardabweichungen sinken beinahe parallel zueinander.

Allerdings ist der „Zinsbuckel“ in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts kaum mit säkularen Trends zu erklären. Dafür kommt nur eine treibende Kraft in Frage: die Zinspolitik der Zentralbanken. Im Verlauf der 1960er Jahre verfolge die US Federal Reserve eine lockere Geldpolitik und legte den Grundstein für die Explosion der Inflation während der 1970er Jahr. Anfang der 1980er Jahre brach Federal Reserve Chef Paul Volcker die Inflationsflut mit Rekordzinsen. Mit dem Einsetzen der Inflationsebbe sanken dann die Zinsen im Verlauf der letzten vier Jahrzehnte auf historische Tiefststände. Entgegen jeder ökonomischen Vernunft und in einem in der fünftausendjährigen Zinsgeschichte einmaligen Vorgang erzwang die Europäische Zentralbank sogar Negativzinsen.

Wie könnte es weitergehen?

Es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die in diesem Jahr begonnene „Zinswende“ den Beginn einer neuen säkularen Entwicklung markiert. Bis in die jüngere Vergangenheit hatten die zunehmende Globalisierung, das Wachstum der globalen Erwerbsbevölkerung und technischer Fortschritt zu sinkender Inflation und sinkenden Zinsen geführt.ix Mit dem Aufflammen der geopolitischen Rivalität zwischen den USA und China, der Coronapandemie und dem Ukrainekrieg wird nun die Globalisierung teilweise rückabgewickelt. Hinzu kommt, dass mit der Alterung der Bevölkerungen in den großen Ländern der Welt die globale Erwerbsbevölkerung schrumpft. Zusammen genommen dreht sich dadurch der frühere Gegenwind in einen Rückenwind für die Inflation. Verstärkt wird der Inflationsdruck dadurch, dass die Geldpolitik in den westlichen Ländern wie in den 1960er und 1970er Jahren viel zu lange viel zu locker gewesen ist.

Mit der Rückkehr der Inflation ist eine Rückkehr der Zinsen zu ihrem langfristigen Trend vorgezeichnet. Auf der Grundlage von Schmelzings Daten und unter der Annahme, dass die logarithmische Form die Entwicklung des Trends seit dem 14. Jahrhundert angemessen beschreibt, dürfte dieser Trendwert für den realen Zins in der Nähe von vier Prozent und der Trendwert für den nominalen Zins etwas unter sechs Prozent liegen (Abbildung 1). Möglicherweise sind aber auch über den Trendwerten liegende nominale und reale Zinsen für einige Zeit erforderlich, um die Inflationswelle zu brechen.

Unter der Annahme, dass Abbildung 1 die langfristige Entwicklung der Zinsen und ihres Trends richtig beschreibt, sind kaum noch weitere Rückgänge der Trendwerte zu erwarten, da die negative Steigung der Trendkurven gegen null geht. Dagegen könnte durch eine zunehmende Fragmentierung der Güter- und Finanzmärkte eine Wende zu einem positiven Trend für den Zins entstehen. Der positive Trend könnte verstärkt werden, wenn – wie es Homer und Sylla für ältere Kulturen beobachtet haben – die westliche Zivilisation den Niedergang erleben würde.


i https://www.federalreserve.gov/boarddocs/speeches/2005/200503102/default.htm.

ii http://larrysummers.com/imf-fourteenth-annual-research-conference-in-honor-of-stanley-fischer/.

iii https://de.wikipedia.org/wiki/Sparschwemme#cite_note-CCvW-4.

iv https://www.penguin.co.uk/books/448594/the-price-of-time-by-chancellor-edward/9780241569160.

v https://qjae.scholasticahq.com/article/22177-reasons-for-the-demise-of-interest-savings-glut-and-secular-stagnation-or-central-bank-policy?auth_token=9D3noRQHkce6-HFtUe1K.

vi https://onlinelibrary.wiley.com/doi/abs/10.1111/sjpe.12176.

vii https://www.wiley.com/en-us/A+History+of+Interest+Rates%2C+4th+Edition-p-9780471732839#download-product-flyer.

viii https://www.bankofengland.co.uk/working-paper/2020/eight-centuries-of-global-real-interest-rates-r-g-and-the-suprasecular-decline-1311-2018.

ix https://link.springer.com/book/10.1007/978-3-030-42657-6

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