15.12.2021 - Kommentare

Die EU rüstet gegen China zaghaft auf

von Norbert F. Tofall


China droht internationalen Unternehmen mit dem Ausschluß vom chinesischen Markt, falls diese ihre Geschäftsbeziehungen mit Litauen nicht einstellen. Zudem verhindert die chinesische Regierung die Ausfuhr von chinesischen Waren nach Litauen. Da viele litauische Unternehmen in internationale Lieferketten mit Chinabezug eingebunden sind oder auch sonst mit Unternehmen kooperieren und Handel treiben, die auf dem chinesischen Markt agieren, zielen die chinesischen Wirtschaftssanktionen auf die ökonomische Destabilisierung von Litauen. Und nicht nur das EU-Mitgliedsland Litauen soll bestraft werden, weil es gewagt hat, Taiwan zu erlauben, ein offizielles Verbindungsbüro in Vilnius zu eröffnen. China hat einen Wirtschaftskrieg gegen Litauen eröffnet, um auch andere Staaten und insbesondere die Europäische Union davon abzuhalten, Taiwan auch nur teilweise diplomatisch anzuerkennen.

I.

Einer derartigen geoökonomischen Kriegführung Chinas – aber auch anderen Erpressungsversuchen von Drittstaaten, welche die Bereiche Handel und Investitionen betreffen wie beispielsweise russische Gaslieferungen – will die Europäische Union schon länger geschlossen entgegentreten, scheiterte aber oftmals am Veto einzelner Mitgliedstaaten.  Am 8. Dezember 2021 hat die EU-Kommission nun den Entwurf für eine „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über den Schutz der Union und ihrer Mitgliedstaaten vor wirtschaftlicher Nötigung durch Drittländer“ vorgelegt, mit der ein Anti-Nötigungsinstrument (Anti-Coercion Instrument) geschaffen werden soll.1

Das Ziel dieser Verordnung besteht darin, Staaten davon abzuhalten, den Handel oder Investitionen einzuschränken oder auch nur damit zu drohen, um einen Politikwechsel in der EU oder in einzelnen EU-Mitgliedstaaten herbeizuführen. Das neue Anti-Nötigungsinstrument soll deeskalierend wirken und in einem ersten Schritt durch einen Dialog die Rücknahme der angekündigten oder durchgeführten Zwangsmaßnahmen gegen Handel und Investitionen bewirken. Jegliche Gegenmaßnahmen der EU sollen nur als letztes Mittel angewendet werden, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, gegen wirtschaftliche Einschüchterung vorzugehen, die viele Formen annehmen könne. Das Anti-Nötigungsinstrument richte sich gegen Länder, die explizit Zwang und handelspolitische Schutzmaßnahmen gegen die EU anwenden, über selektive Grenz- oder Lebensmittelkontrollen von Waren aus einem bestimmten EU-Land bis hin zum Boykott von Waren eines bestimmten Ursprungs. Ziel sei es, das legitime Recht der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten zu wahren, souverän politische Entscheidungen zu treffen, und schwerwiegende Eingriffe in die Souveränität der EU oder ihrer Mitgliedstaaten zu verhindern.2

Mit diesem neuen Instrument will die EU in der Lage sein, auf Fälle von wirtschaftlicher Nötigung strukturiert und einheitlich zu reagieren. Ein eigener Rechtsrahmen solle für Vorhersehbarkeit und Transparenz sorgen und unterstreiche das Festhalten der Europäischen Union an einem regelbasierten Ansatz auf internationaler Ebene.3

Geplant ist, daß sich die EU direkt mit dem betreffenden Land auseinandersetzt, um die wirtschaftliche Einschüchterung zu beenden. Sollte die wirtschaftliche Einschüchterung nicht sofort aufhören, könne die EU mit dem neuen Instrument schnell und wirksam reagieren und für jede Situation eine maßgeschneiderte und verhältnismäßige Antwort bereitstellen – von der Verhängung von Zöllen und der Beschränkung von Einfuhren aus dem betreffenden Land bis hin zu Beschränkungen von Dienstleistungen oder Investitionen oder Maßnahmen zur Begrenzung des Zugangs des Landes zum EU-Binnenmarkt.4

Daß sich die EU direkt mit dem Drittstaat, der ökonomische Nötigung und Einschüchterung androht, auseinandersetzt, folgt aus Artikel 207 Absatz 2 AEUV. Artikel 207 Absatz 2 AEUV sieht den Erlaß von Maßnahmen zur Festlegung des Rahmens für die Durchführung der gemeinsamen Handelspolitik vor. Artikel 207 Absatz 1 AEUV definiert zuvor den Anwendungsbereich der gemeinsamen Handelspolitik, der sich unter anderem auf den Waren- und Dienstleistungsverkehr, die handelspolitischen Aspekte des geistigen Eigentums, ausländische Direktinvestitionen, die Ausfuhrpolitik und Maßnahmen zum Schutz des Handels bezieht. Artikel 3 Absatz 1 Buchstabe e AEUV sieht vor, dass die Union im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik über eine ausschließliche Zuständigkeit verfügt. Artikel 207 Absatz 2 AEUV fällt in die Kategorie der ausschließlichen Zuständigkeiten. Ein Tätigwerden der Union sei deshalb die einzige Möglichkeit, mit der die Union ihrer Verpflichtung zur Festlegung und Durchführung der gemeinsamen Handelspolitik nachkommen könne. Die Mitgliedstaaten können in diesem Bereich nicht tätig werden.5

Da jedoch die einzelnen EU-Mitgliedstaaten bis dato durch ein Veto das Tätigwerden der EU verhindern konnten, scheiterten bisher viele Versuche der EU, wirksam gegen ökonomische Einschüchterungs- und Nötigungsversuche vorzugehen. Mit der neuen Verordnung soll deshalb der EU-Kommission die Kompetenz zugewiesen werden, das neue Anti-Nötigungsinstrument von sich aus anwenden zu können, was die EU-Mitgliedsländer dann nur durch eine qualifizierte Mehrheit verhindern könnten.

Diese Kompetenzverteilung könnte weitreichende Folgen nach sich ziehen – sowohl hinsichtlich der inneren Verfassung der EU als auch hinsichtlich der Beziehungen zu Drittstaaten wie vornehmlich China und Russland aber auch den USA. Denn Einschüchterungsversuche auf einzelne Länder könnten allein schon deshalb ins Leere laufen, weil diese Länder, falls sie nicht die Kraft aufbringen, sich diesen Nötigungen entgegenzustellen und deshalb eine erzwungene Veto-Position einnehmen, ein geschlossenes Handeln der EU nicht aufhalten können. Und China dürfte es erheblich schwerer fallen, das Handeln der EU zu verhindern, weil es auch für China nicht so leicht sein wird, qualifizierte Mehrheiten von EU-Mitgliedstaaten für Veto-Positionen zu organisieren.

Ob die geplante neue Kompetenzverteilung und das neue Anti-Nötigungsinstrument zu vermehrten Streitigkeiten innerhalb der EU führt oder im Gegenteil sogar zu einer Befriedung dürfte davon abhängen, wie die EU-Kommission das neue Instrument konkret handhaben wird.

II.

Vor allem China ist es in den letzten Jahren sehr erfolgreich gelungen, ein geschlossenes Vorgehen von Staatenverbünden und internationalen Organisationen gegen China zu verhindern. So stimmten beispielsweise im Oktober 2019 aus dem Kreis der Länder, die im sogenannten 17+1-Format von europäischen Ländern und China organisiert sind, nur Albanien, Estland, Lettland und Litauen gegen eine chinesische Initiative, mit welcher die Umerziehungslager in Xinjiang als Maßnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus, des Islamismus und des Radikalismus gelobt wurden. Aus dem Kreis der EU-Länder, die am 17+1-Format teilnehmen, stimmten also nur die drei baltischen Staaten gegen China; Polen, Ungarn, Tschechien, die Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Slowenien und Griechenland trauten sich nicht, sich gegen China zu stellen.6 Andere Initiativen gegen China, die von der EU angestrebt wurden, wurden von Italien und Griechenland verhindert.

China ist es durch dieses Vorgehen weitgehend gelungen, die direkte Auseinandersetzung mit der Europäischen Union und die daraus möglichen Eskalationen von vornherein zu verhindern, wenn nicht gar im Keim zu ersticken. Durch das geplante Anti-Nötigungsinstrument der EU könnte sich das jedoch ändern.

Im aktuellen Nötigungsfall Litauen könnten, wenn die vorgeschlagene Verordnung schnell vom EU-Parlament und vom Rat verabschiedet wird, und sich China dann auf keinen klärenden Dialog mit der EU-Kommission einlassen sollte, entsprechende Maßnahmen wie die Verhängung von Strafzöllen und die Beschränkung von Einfuhren aus China bis hin zu Beschränkungen von Dienstleistungen oder Investitionen oder Maßnahmen zur Begrenzung des Zugangs des Landes zum EU-Binnenmarkt folgen. Daß sich aus dem Fall Litauen eine mögliche Eskalation zu einem Wirtschaftskrieg zwischen China und der EU entwickelt, dürfte aber weniger wahrscheinlich sein. Ein zukünftiger Wirtschaftskrieg zwischen China und der Europäischen Union könnte sich bei anderen Fragen allerdings durchaus entwickeln. Die EU-Kommission hätte mit dem geplanten Anti-Nötigungsinstrument dafür zumindest ein wirksames Mittel in der Hand.

Ob die EU-Kommission und eine qualifizierte Mehrheit von EU-Ländern jedoch den ausreichenden Kampfeswillen aufbringen, das geplante Anti-Nötigungsinstrument konsequent gegen China anzuwenden, um die eigene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wirksam zu verteidigen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Die Europäische Union scheint sich noch immer der Illusion hinzugeben, im geopolitischen Konflikt zwischen China und den USA eine vermittelnde Position einnehmen zu können, ohne dabei selbst zerrieben zu werden. Anstelle dieser Illusionen wäre ein klares Bekenntnis notwendig, auf der Seite der USA kämpfen zu wollen. Wir können nur hoffen, daß die Rede von der angestrebten strategischen Autonomie der EU nicht dazu dient, einen mangelnden Willen zu kaschieren, die eigene freiheitliche Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu verteidigen.


1 Siehe “Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on the protection of the Union and its Member States from economic coercion by third countries” vom 8. Dezember 2021, online: trade.ec.europa.eu/doclib/html/159958.htm

2 Vgl. European Commission: Press Release, 8. December 2021; online: ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/en/ip_21_6642

3 Vgl. ebenda.

4 Vgl. ebenda.

5 Siehe “Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on the protection of the Union and its Member States from economic coercion by third countries” vom 8. Dezember 2021, S. 2-3; online: trade.ec.europa.eu/doclib/html/159958.htm

6 Siehe Faruk Ajeti: Chinas Menschenrechtspolitik und seine eigene Art der Interpretation der Menschenrechte, Österreichisches Institut für Internationale Politik, Working Paper 111 / 2021, S. 15.

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