06.05.2020 - Kommentare

Verfassungsgerichtsurteil mit weitreichenden Folgen

von Norbert F. Tofall


Das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 5. Mai 2020 wird in die europäische Rechtsgeschichte eingehen. Zum ersten Mal hat ein Verfassungsgericht eines EU-Mitgliedslandes ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) als „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“ beurteilt, weshalb das EuGH-Urteil zum Staatsanleihekaufprogramm (Public Sector Purchase Programme – PSPP) vom 11. Dezember 2018 ultra vires ergangen sei, d.h. außerhalb der Kompetenzen, die dem EuGH durch die europäischen Verträge erteilt wurden. Das Bundesverfassungsgericht wirft dem Europäischen Gerichtshof also nichts weniger als Kompetenzüberschreitung vor. Das ist alles andere als eine Bagatelle. Man wird in der Europäischen Union über das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 5. Mai 2020 nicht ohne weiteres hinweggehen können.

I.

In seiner sehr ausführlichen Begründung stellt das Bundesverfassungsgericht im Grunde fest, daß der EuGH die Aufgaben eines ordentlichen Gerichtes überhaupt nicht wahrgenommen habe. Denn die Kompetenzüberschreitung des EuGH bestehe darin, daß der EuGH ein Urteil gefällt habe, ohne die „im europäischen Rechtsraum überkommenen Auslegungsmethoden“ berücksichtigt und angewendet zu haben. „Eine offenkundige Außerachtlassung der im europäischen Rechtsraum überkommenen Auslegungsmethoden oder allgemeiner, den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gemeinsamer Rechtsgrundsätze ist vom Mandat“ des EuGH nach „Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV nicht umfasst.“ Das heißt weniger zurückhaltend formuliert, daß auch die Urteile des EuGH wie alle Gerichtsurteile nicht auf Willkür beruhen dürfen. Willkür soll durch die Beachtung der überkommenen Auslegungsmethoden und der gemeinsamen Rechtsgrundsätze ja gerade verhindert werden. Werden die überkommenen Auslegungsmethoden und die gemeinsamen Rechtsgrundsätze indes nicht beachtet, dann ist ein Urteil nicht nachvollziehbar und damit ein Willkürurteil.

Das Bundesverfassungsgericht betont, daß es vor diesem Hintergrund nicht die Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sei, „bei Auslegungsfragen im Unionsrecht, die auch bei methodengerechter Bewältigung im üblichen rechtswissenschaftlichen Diskussionsrahmen zu verschiedenen Ergebnissen führen können, seine Auslegung an die Stelle derjenigen des Gerichtshofs zu setzen.“ Das Bundesverfassungsgericht müsse „die Entscheidung des Gerichtshofs vielmehr auch dann respektieren, wenn dieser zu einer Auffassung gelangt, der sich mit gewichtigen Argumenten entgegentreten ließe, solange sie sich auf anerkannte methodische Grundsätze zurückführen lässt und nicht objektiv willkürlich erscheint.“ Das heißt im Umkehrschluß, daß das Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des EuGH nicht respektieren darf, wenn sich Urteile des EuGH nicht auf anerkannte methodische Grundsätze zurückführen lassen und objektiv willkürlich erscheinen.

Die Außerachtlassung überkommener Auslegungsvorschriften und anerkannter methodischer Grundsätze sowie gemeinsamer Rechtsgrundsätze sei im Urteil des EuGH über die Staatsanleihekäufe vom 11. Dezember 2018 aber offensichtlich. Denn die Auffassung des Gerichtshofs,  der das Staatsanleihekaufprogramm PSPP für mit dem Europarecht vereinbar hält, verkenne „in offensichtlicher Weise Bedeutung und Tragweite“ des auch bei der Kompetenzverteilung zwischen EZB und den einzelnen Mitgliedsländern zu beachtenden Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit und sei „wegen der vollständigen Ausklammerung der tatsächlichen Auswirkungen des Programms auf die Wirtschaftspolitik methodisch schlechterdings nicht mehr vertretbar.“ Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nach Art. 5 EUV bei der „Ausübung von Zuständigkeiten der Union“ ausdrücklich zu beachten.

Zur Erinnerung: Die Kritiker des PSPP-Programmes werfen der EZB vor, ihre Kompetenz für die Geldpolitik überschritten zu haben. Die EZB sei mit ihrem PSPP-Programm in den Bereich der Wirtschaftspolitik, für welche die einzelnen Mitgliedsländer die Kompetenz haben, eingebrochen. Das Bundesverfassungsgericht verdeutlicht nun, daß nur dann beurteilt werden kann, ob das PSPP-Programm die wirtschaftspolitische Kompetenz der Mitgliedsländer verletzte, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit betrachtet werde, der nach Art. 5 EUV zu beachten ist. Das sei methodisch aber nur möglich, wenn die tatsächlichen Auswirkungen des PSPP-Programms auf die Wirtschaftspolitik betrachtet würden. Wenn nicht die Auswirkungen einer Maßnahme betrachtet werden, dann kann auch keine Aussage darüber getroffen werden, ob die Maßnahme verhältnismäßig ist. Ein Verhältnis kann nur in Bezug auf eine Auswirkung gebildet werden. Diese methodische Anforderung ist selbsterklärend und entspricht dem gesunden Menschenverstand.

Das Bundesverfassungsgericht urteilt deshalb konsequent, daß der Ansatz des Europäischen Gerichtshofes, „bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung die tatsächlichen Wirkungen außer Acht zu lassen und auf eine wertende Gesamtbetrachtung zu verzichten, (…) die Anforderungen an eine nachvollziehbare Überprüfung der Einhaltung des währungspolitischen Mandats des Europäischen Systems der Zentralbanken (ESZB) und der EZB“ verfehle. Da so verfahren werde, könne „der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 5 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 4 EUV) die ihm zukommende Korrektivfunktion zum Schutz mitgliedstaatlicher Zuständigkeiten nicht erfüllen, was das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EUV) im Grunde leerlaufen“ lasse. „Das völlige Ausblenden aller wirtschaftspolitischen Auswirkungen widerspricht auch der methodischen Herangehensweise des Gerichtshofs in nahezu sämtlichen sonstigen Bereichen der Unionsrechtsordnung.“ Das heißt, da der EuGH sonst sehr wohl wirtschaftspolitische Auswirkungen in seinen Urteilen betrachtet, wiegt das völlige Ausblenden von wirtschaftspolitischen Auswirkungen im Urteil über die Staatsanleihekaufprogramme vom 11. Dezember 2018 umso willkürlicher.

Zusammenfassend urteilt das Bundesverfassungsgericht, daß die vom Europäischen Gerichtshof vorgenommene Auslegung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und die darauf gestützte Bestimmung des Mandats des ESZB deshalb das ihm in Art. 19 Abs. 1 Satz 2 EUV erteilte Mandat überschreiten. „Die Selbstbeschränkung seiner gerichtlichen Prüfung darauf, ob ein „offensichtlicher“ Beurteilungsfehler der EZB vorliegt, ob eine Maßnahme „offensichtlich“ über das zur Erreichung des Ziels Erforderliche hinausgeht oder ob deren Nachteile „offensichtlich“ außer Verhältnis zu den verfolgten Zielen stehen, vermag die auf die Währungspolitik begrenzte Zuständigkeit der EZB nicht einzuhegen. Sie gesteht ihr vielmehr selbstbestimmte, schleichende Kompetenzerweiterungen zu oder erklärt diese jedenfalls für gerichtlich nicht oder nur sehr eingeschränkt überprüfbar. Die Wahrung der kompetenziellen Grundlagen der Europäischen Union hat jedoch entscheidende Bedeutung für die Gewährleistung des demokratischen Prinzips und die rechtliche Verfasstheit der Europäischen Union.“

II.

Da das Bundesverfassungsgericht aufgrund der Kompetenzüberschreitung des EuGH nicht an dessen Entscheidungen gebunden ist, hatte es eigenständig zu überprüfen, ob das Staatsanleihekaufprogramm PSPP der EZB mit Europarecht vereinbar ist und ob die EZB mit dem PSPP die wirtschaftspolitischen Kompetenzen der EU-Mitgliedsländer verletzt hat. Einen Verstoß gegen das Verbot der monetären Staatsfinanzierung hat das BVG dabei nicht festgestellt. Da aber die EZB wie jedes Unionsorgan den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nach Art. 5 EUV zu beachten hat, hätte die EZB prüfen und nachvollziehbar bewerten müssen, welche wirtschaftspolitischen Auswirkungen sein PSPP-Programm hat.

Ein Staatsanleihekaufprogramm wie das PSPP habe erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen. Das setze insbesondere voraus, daß das währungspolitische Ziel und die wirtschaftspolitischen Auswirkungen jeweils benannt, gewichtet und gegeneinander abgewogen werden. „Die unbedingte Verfolgung des mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziels, eine Inflationsrate von unter, aber nahe 2 % zu erreichen, unter Ausblendung der mit dem Programm verbundenen wirtschaftspolitischen Auswirkungen missachtet daher offensichtlich den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.“

Das PSPP verbessere die Refinanzierungsbedingungen der Mitgliedstaaten, weil sich diese zu deutlich günstigeren Konditionen Kredite am Kapitalmarkt verschaffen können. Das PSPP wirke sich daher erheblich auf die fiskalpolitischen Rahmenbedingungen in den Mitgliedstaaten aus. Insbesondere könne es dieselbe Wirkung haben wie Finanzhilfen nach Art. 12 ff. des ESM-Vertrags. Umfang und Dauer des PSPP könnten dazu führen, daß selbst primärrechtskonforme Wirkungen unverhältnismäßig werden. Das PSPP wirke sich auch auf den Bankensektor aus, indem es risikobehaftete Staatsanleihen in großem Umfang in die Bilanzen des Eurosystems übernehme, dadurch die wirtschaftliche Situation der Banken verbessere und ihre Bonität erhöhe. Zu den Folgen des PSPP gehörten zudem ökonomische und soziale Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die etwa als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer jedenfalls mittelbar betroffen seien. So ergeben sich etwa für Sparvermögen deutliche Verlustrisiken. Wirtschaftlich an sich nicht mehr lebensfähige Unternehmen blieben aufgrund des auch durch das PSPP abgesenkten allgemeinen Zinsniveaus weiterhin am Markt (Zombieunternehmen). Schließlich begäbe sich das Eurosystem mit zunehmender Laufzeit des Programms und steigendem Gesamtvolumen in eine erhöhte Abhängigkeit von der Politik der Mitgliedstaaten, weil es das PSPP immer weniger ohne Gefährdung der Stabilität der Währungsunion beenden und rückabwickeln könne.

„Diese und andere erhebliche wirtschaftspolitische Auswirkungen hätte die EZB gewichten, mit den prognostizierten Vorteilen für die Erreichung des von ihr definierten währungspolitischen Ziels in Beziehung setzen und nach Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten abwägen müssen. Eine solche Abwägung ist, soweit ersichtlich, weder zu Beginn des Programms noch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt. Ohne die Dokumentation, dass und wie diese Abwägung stattgefunden hat, lässt sich die rechtliche Einhaltung des Mandats der EZB gerichtlich nicht effektiv kontrollieren.“

Diese Dokumentation der Abwägungen und der Prüfung der Verhältnismäßigkeit sei auch notwendig, bevor abschließend beurteilt werden könne, ob die deutsche Bundesregierung und der Bundestag hätten auf eine Beendigung des PSPP dringen müssen.

Bundesregierung und Deutscher Bundestag seien jedoch verpflichtet, der bisherigen Handhabung des PSPP entgegenzutreten. Denn im „Falle offensichtlicher und strukturell bedeutsamer Kompetenzüberschreitungen durch Organe, Einrichtungen und sonstige Stellen der Europäischen Union sind die Verfassungsorgane verpflichtet, im Rahmen ihrer Kompetenzen und mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln aktiv auf … die Aufhebung der vom Integrationsprogramm nicht gedeckten Maßnahmen hinzuwirken sowie – solange die Maßnahmen fortwirken – geeignete Vorkehrungen zu treffen, damit die innerstaatlichen Auswirkungen der Maßnahmen so weit wie möglich begrenzt bleiben.“ Das bedeute konkret, daß die Bundesregierung und der Bundestag verpflichtet seien, auf eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die EZB hinzuwirken. Entsprechendes gelte für die am 1. Januar 2019 begonnene Reinvestitionsphase des PSPP und seine Wiederaufnahme zum 1. November 2019. Darüber hinaus dürften deutsche Verfassungsorgane, Behörden und Gerichte weder am Zustandekommen noch an Umsetzung, Vollziehung oder Operationalisierung von Ultra-vires-Akten mitwirken. Der Bundesbank sei es daher untersagt, nach einer für die Abstimmung im Eurosystem notwendigen Übergangsfrist von höchstens drei Monaten an Umsetzung und Vollzug der verfahrensgegenständlichen Beschlüsse mitzuwirken, wenn nicht der EZB-Rat in einem neuen Beschluß nachvollziehbar darlege, daß die mit dem PSPP angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen. Unter derselben Voraussetzung sei die Bundesbank verpflichtet, für eine im Rahmen des Eurosystems abgestimmte – auch langfristig angelegte – Rückführung der Bestände an Staatsanleihen Sorge zu tragen.

Die Finanzmärkte haben auf dieses Urteil des Bundesverfassungsgerichts bislang nicht negativ reagiert. Es überwiegt wohl die Hoffnung, daß bei einer Nachlieferung der Verhältnismäßigkeitsprüfung sowohl das PSPP nicht gestoppt als auch keine Auswirkungen auf das neue Corona-Anleihekaufprogramm der EZB entstehen werden. Das ist jedoch vollkommen offen. Denn erstmal muß die EZB der Forderung nachkommen, eine Dokumentation ihrer Abwägungen zur Verhältnismäßigkeitsprüfung vorzulegen. Damit würde die EZB jedoch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts anerkennen und das Urteil des EuGH, mit dem sie einen Freifahrtschein für ihre geldpolitischen Maßnahmen erhalten hat, de facto entwerten. Legt die EZB jedoch keine Dokumentation vor, dann scheidet die Bundesbank bei der weiteren Umsetzung des PSPP und wohl auch beim Corona-Anleihekaufprogramm aus, was den Einstieg in eine Aufspaltung des Euro in einen Nord- und Südeuro bedeuten könnte. Zudem könnte in den nächsten Tagen in der EU ein Verfassungsstreit ausbrechen zwischen den Ländern, die das EuGH-Urteil vom 11. Dezember 2018 vehement verteidigen, und jenen, die dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts folgen. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 5. Mai 2020 wird so oder so weitreichende Folgen zeitigen.

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