17.11.2023 - Kommentare

Der Kampf der Kulturen ist bei uns angekommen

von Thomas Mayer


Die Reaktion (zu) vieler muslimischer Einwanderer - mit und ohne deutschen Pass - auf den von der palästinensischen Terrororganisation Hamas am 7. Oktober verübten Pogrom gegen Juden war ein Schock für alle, die ihre Identität in den Grundwerten der Bundesrepublik Deutschland verankert wissen. Wie kann man in Leuten Mitbürger sehen, die mörderischen Antisemitismus bejubeln, die freiheitlich-demokratische Grundwerte ablehnen und einen Rechtsstaat verachten, weil dieser sich nicht gegen ihre Rechtsbrüche und Staatsfeindlichkeit robust zur Wehr setzt? Man kann es nicht. Das schockiert, öffnet aber auch die Augen: Der von Samuel Huntington in seinem berühmten Buch „Clash of Civilizations“ Mitte der 1990er Jahre vorhergesagte Kampf der Kulturen ist bei uns angekommen. Diese Erkenntnis ist zwar schmerzhaft, weil mit ihr jahrzehntelang gepflegte Illusionen platzen, aber sie eröffnet auch die Möglichkeit, mit einer beherzten Umsteuerung der Politik den sich abzeichnenden gesellschaftlichen und ökonomischen Niedergang abzuwenden.

Kampf der Kulturen

Im Jahr 1996 legte Samuel P. Huntington auf der Grundlage eines drei Jahre zuvor in Foreign Affairs veröffentlichten Aufsatzes ein Buch mit dem Titel The Clash of Civilizations vor, der als „Kampf der Kulturen“ ins Deutsche übersetzt wurde.1 Im Aufsatz und Buch vertrat er die These, dass dem vom Kampf der Ideologien bestimmten zwanzigsten Jahrhundert ein vom Kampf der Kulturen bestimmtes einundzwanzigstes Jahrhundert folgen würde. Das Ende des kalten Krieges und die zunehmende Globalisierung würde die Menschen zur Suche nach Identität veranlassen, die sie in ihrer Kultur finden würden. Die Kultur wiederum, so Huntington, würde wesentlich von der Religion bestimmt. Denn Religion, die geteilte Vorstellung vom Jenseits und Sinn des Lebens, sei die mächtigste Bindungskraft menschlicher Gemeinschaften, vom Stamm über die Nation bis zur Kulturgemeinschaft.

In einer Weltkarte der Kulturen identifizierte Huntington neun Kulturkreise: den (1) westlichen, (2) lateinamerikanischen, (3) afrikanischen, (4) islamischen, (5) sinischen (chinesischen), (6) hinduistischen, (7) orthodoxen, (8) buddhistischen und (9) japanischen. Kulturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede würden die Interessen, Antagonismen und Verbindungen von Staaten bestimmen. Die wichtigsten Länder der Welt kämen überwiegend aus unterschiedlichen Kulturen. Lokale Konflikte zwischen diesen würden wahrscheinlich zu Kriegen führen. Dabei würde sich die Macht von der lange dominanten westlichen zu nicht-westlichen Kulturen verschieben.

Doch während es vor allem in den islamischen, sinischen und orthodoxen Kulturkreisen zu einer Rückbesinnung auf gemeinsame traditionelle und religiöse Werte kam, führte die Suche nach Identität zur Zerfaserung der Gesellschaften in Europa und den USA. Statt zur Renaissance der auf antiken und christlichen Vorstellungen fußenden gemeinsamen westlichen Werte, kam es zu einer Identitätspolitik, in der einflussreiche Minderheiten der Mehrheitsgesellschaft nach ethnischer Herkunft, Geschlecht oder sexueller Orientierung bestimmte Gruppenidentitäten aufzwangen. Früher benachteiligte gesellschaftliche Minderheiten sollten bevorzugt werden, die gesellschaftliche Mehrheit wegen ihrer früheren Verfehlungen in Sack und Asche gehen. Ob absichtlich oder zufällig, der von den Minderheiten vorangetriebene Kulturrelativismus und die von ihnen angestrebte kulturelle Diversität beförderten die Unterlegenheit des westlichen gegenüber den homogenen, nicht-westlichen Kulturkreisen. Erinnerungen an spätrömische Verhältnisse werden wach.2

Ende des westlichen Universalismus

Obwohl er sie mit vielen Fakten und Analysen begründete, stieß Huntingtons These überwiegend auf Ablehnung. Mitte der 1990er Jahre war der Glaube an den globalen Siegeszug der westlichen Kultur, die gerade ihre Überlegenheit gegenüber dem Sowjetkommunismus bewiesen hatte, sehr groß. Andere Kulturkreise würden zu dem westlichen aufschließen, Einwanderer in den Westen die dort vorherrschenden Wertvorstellungen übernehmen. Verschiedene US-Präsidenten, vor allem der ab 2001 regierende George W. Bush und seine neo-konservative Umgebung, meinte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in muslimischen Gesellschaften mit Waffengewalt durchsetzen zu können. China sollte sich durch Handel dem Westen annähern, dadurch wandeln und in die von den USA nach dem zweiten Weltkrieg geformte Weltordnung eingebunden werden.

Liest man Huntingtons Buch heute, empfindet man viele seiner Einschätzungen als prophetisch. Insbesondere hat er den Antagonismus der islamischen und sinischen Kulturen gegenüber dem Westen früh erkannt. Seiner Vorhersage, dass die USA mit China in einen Kampf um die globale Hegemonie eintreten und die islamische Welt eine Front gegen den Westen bilden würde, kann heute niemand mehr widersprechen. Auch seine Aussage „Islam’s borders are bloody, and so are its innards” kann man nicht mehr empört zurückweisen.

Der „Clash“ ist da

Von den neun von Huntington identifizierten Kulturen ist in Übereinstimmung mit seiner Vorhersage der „Clash“ zwischen der westlichen Kultur auf der einen Seite und den islamischen, sinischen und orthodoxen Kulturen auf der anderen in vollem Gang. Dabei kommt es zu zeitweiligen Zweckbündnissen zwischen den anti-westlichen Kulturen, wie es in der partiellen Zusammenarbeit von China, Russland und Iran zu sehen ist. Und vor dem Hintergrund der Bedrohung durch China kommt es auch zu engerer Kooperation Japans und opportunistischen Kooperation der hinduistischen und buddhistischen Kulturen mit dem Westen. Aufgrund ihrer wirtschaftlichen Schwäche spielen die lateinamerikanischen und afrikanischen Kulturen nur im Bereich der Migration eine für den Westen relevante Rolle.

Auch wenn US-Präsident Biden den Europäern im Widerstand gegen die Aggression Russlands noch einmal zu Hilfe kam, dürfte seine weitere Amtszeit und die seiner Nachfolger von Anstrengungen zur Eindämmung Chinas geprägt sein, wie die der US-Präsidenten der Nachkriegszeit von der Eindämmung der Sowjetunion. Dafür brauchen die USA ihre ganze Kraft. Daher die Fortsetzung wesentlicher Elemente der Außenpolitik von Trump durch Biden, daher auch der Vollzug des von Trump eingeleiteten weitgehenden Rückzugs aus der islamischen Welt (obwohl die Machtlücke nun von China und Russland gefüllt wird).

Aber politische Macht beruht immer auch auf wirtschaftlicher Kraft. Sowohl der „heiße“ zweite Weltkrieg als auch der „kalte Krieg“ danach wurde durch die wirtschaftliche Überlegenheit der USA entschieden. Heute dürfte es den USA schwerer fallen, ihre wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber China zu behaupten. Folglich werden die USA alle Kräfte bündeln müssen, um wenigstens die Eindämmung Chinas zu erreichen. Wirtschaftliche Kraft spiegelt sich in einer starken Währung wider. Um den künftigen Abstieg des US-Dollars gegenüber dem Yuan als internationale Reservewährung zu verhindern, müssten die USA daher die während der Pandemie entstandenen öffentlichen Haushaltsdefizite und die globale Dollarschwemme eindämmen. Dem weichen „Carter-Dollar“ folgte der harte „Reagan-Dollar“.

Eine Politik der Eindämmung beschert im günstigsten Fall einen „kalten Frieden“, der von selektiver Abschottung auf vielen und selektiver Zusammenarbeit auf wenigen Gebieten geprägt ist. Im weniger günstigen Fall kommt es zum kalten Krieg, also dem Versuch gegenseitiger Beschädigung ohne militärische Kampfhandlungen. Im ungünstigsten Fall bricht ein heißer Krieg aus, wie zwischen dem orthodoxen Russland und der westlichen Ukraine.

Europa hat seit der Entstehung des Islams über die Jahrtausende viele Kriege mit der islamischen Welt geführt. Die Konflikte werden sich nun fortsetzen, allerdings mit dem Unterschied, dass Europa nur noch sehr begrenzt mit der Unterstützung der USA rechnen kann. Diese setzen nun einen anderen Schwerpunkt. Ökonomisch ist die islamische Welt Europa deutlich unterlegen. Militärisch lässt sich die ökonomische Unterlegenheit aber ausgleichen, wenn der ökonomisch Schwächere (wie der Iran) auf Atomwaffen und Terror setzt. Die Atomwaffen dienen zum Schutz vor Angriffen von außen, während mit Terror feindliche Mächte auf ihrem eigenen Territorium angegriffen werden können, insbesondere wenn Terroristen als Migranten getarnt dort Einlass bekommen. Aufgrund ihres Bevölkerungsüberschusses hat die islamische Welt viele Aspiranten für Emigration und Attentate.

Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung

Wenn Zivilisationen zum ersten Mal in der Geschichte auftauchen, sind ihre Völker in der Regel energisch, dynamisch, brutal, mobil, expansiv und unzivilisiert, so Huntington. Mit weiterer Entwicklung werden die Völker sesshafter und entwickeln die Techniken und Fähigkeiten, die sie zivilisierter machen. Wenn der Wettbewerb zwischen den einzelnen Völkern nachlässt und ein universeller Staat entsteht, erreicht die Zivilisation ihre höchste Stufe, ihr "goldenes Zeitalter“. Moral, Kunst, Literatur, Philosophie, Technologie florieren und kriegerische, wirtschaftliche und politische Kompetenz erreicht ihren Höhepunkt. In dem Maße, wie der Kulturkreis als Zivilisation verfällt, sinkt auch das Niveau seiner Zivilisiertheit, bis er unter dem Ansturm eines anderen aufstrebenden Kulturkreises mit einer niedrigeren Zivilisationsstufe verschwindet.

Einwanderung aus weniger zivilisierten Kulturkreisen kann eine Gesellschaft auch ohne damit verbundenen Import von Terror zersetzen, wenn die Einwanderer die Integration verweigern. Das ist insbesondere bei muslimischen Einwanderern der Fall, da in der islamischen Kultur die Loyalität mehr dem Clan und der Glaubensgemeinschaft als einer Nation oder einem Staat gilt. Bei starker Einwanderung aus dem islamischen Kulturkreis droht der „gespaltene Staat“ („cleft state“, so Huntington). Europa muss jetzt die Entstehung von „cleft states“ verhindern und gleichzeitig die militärische Bedrohung durch das orthodoxe Russland abwenden.

Dazu braucht es eine Verjüngungskur oder, anders gesagt, die Rückkehr vom Stadium des Verfalls ins „goldene Zeitalter“. Militärische Stärke ist wieder gefragt. Sie kann mit der Ukraine gewonnen werden, wenn Europa diese mit Waffen und Wirtschaftshilfe unterstützt und die Ukraine Europa im Gegenzug „kriegerische Kompetenz“ vermittelt. Die Kultur muss sich wieder stärker an ihre westlichen Grundlagen erinnern, statt mit Relativismus vor der Herausforderung anderer Kulturkreise zu kapitulieren. Wirtschaft und Politik müssen zur liberalen Ordnung ohne Abstriche zurückkehren, so dass technischer Fortschritt und Wirtschaftswachstum wieder Fahrt aufnehmen. Die Bürgergesellschaft muss sich zur westlichen Leitkultur bekennen, Einwanderung in den Sozialstaat beenden und von Einwanderern in den Arbeitsmarkt die Zustimmung zur liberalen Ordnung und westlichen Werten abverlangen. Und Europa braucht den Schulterschluss mit den USA.

Schaffen wir das? Nur, wenn wir die anstrengungslose, moralingesäuerte Überheblichkeit, die Bequemlichkeit und den bedingungslosen Opportunismus der Merkel-Ära abwerfen. Die schwarz-grüne Politik mit Linksdrall ist krachend gescheitert: in der Sicherheitspolitik, in der Migrationspolitik, in der Integration der Zuwanderer aus dem islamischen Kulturkreis, in der Energiepolitik, in der allgemeinen Wirtschaftspolitik. Der Anspruch einer deutschen „Vorreiterrolle“ in der Klimapolitik ist nur noch eine Lachnummer. Bundeskanzler Scholz muss einen Neuanfang wagen, mit einer Regierung ohne hemmendes Grün, ohne die in den Parteigremien an die Schalthebel der Macht gespülten politischen Leichtmatrosen, für die stellvertretend die ehemalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht steht. Er muss das Volk mit einer Agenda 2030 überraschen. Man könnte es ihm zutrauen. Doch dann müssen sich auch die jüngeren Generationen anstrengen, wie die Kriegs- und Nachkriegsgenerationen vor ihnen. Ansonsten werden sie zu den Verlierern in der deutschen Geschichte gehören.


1 Dazu auch https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/kommentare/huntington-reloaded/.

2 https://www.cicero.de/kultur/verfall-und-untergang-rom-imperium-westen-inflation-migration.

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