10.07.2020 - Kommentare

Die chinesische Herausforderung

von Thomas Mayer


In der Corona Pandemie erleben wir die Beschleunigung schon länger anhaltender Entwicklungen. Dazu gehört der Aufstieg Chinas zur Weltmacht. Das Land kommt aus der Corona Krise gestärkt hervor: Es bekam die Pandemie schneller unter Kontrolle als Europa und die USA, überwindet dadurch auch die Rezession rascher, kann auf solidere Staatsfinanzen verweisen und meistert die Digitalisierung besser als Europa. Das wirft drei wichtige Fragen auf: Was treibt China an, worin besteht die geopolitische und wirtschaftliche Herausforderung, und wie könnte eine in die westliche Chinastrategie integrierte deutsche Strategie aussehen?

Was China antreibt

Der chinesische Politikwissenschaftler Rong Jian zeichnet das Bild eines Landes, das seit beinahe 2500 Jahren von den Lehren des Konfuzius geprägt ist und im 20. Jahrhundert eher oberflächlich mit dem westlichen Liberalismus und Marxismus geflirtet hat.1 In der Han Dynastie (206 B.C. – 220 A.D.) wurde der klassische Konfuzianismus zur Staatslehre. Später, in den Song (960-1279) und Ming (1368-1644) Dynastien verbanden sich metaphysische Vorstellungen mit dem klassischen Konfuzianismus zum Neu-Konfuzianismus. In der Qing Dynastie (1644-1912) zogen sich die Jünger des Konfuzius schließlich in den akademischen Bereich zurück. Mit dem Ende der Qing Dynastie im Jahr 1912 endete auch die konfuzianische Staatslehre.

Die Zeit von 1912 bis 1935 brachte eine Phase der Liberalisierung der chinesischen Gesellschaft. Doch kämpfte der Liberalismus in dieser Zeit sowohl gegen den althergebrachten Konfuzianismus als auch gegen den vom Westen importierten Marxismus. Mit dem Sieg Mao Zedongs setzte sich schließlich der Marxismus als Staatslehre durch. Laut Rong Jian ging es der Kommunistischen Partei Chinas unter Mao aber weniger um marxistische Ideologie als um die Errichtung einer von Mao geführten totalen Diktatur: „This is a power structure unlimited in any way by institutional and legal restraints. Indeed, we would not be able to find an enduring set of ideas, beliefs, meaning or values within this power structure” (Rong, 2020, S. 101). Maos Diktatur endete in der wirtschaftlichen Katastrophe.

Unter Deng Xiaoping wurde die maoistische Diktatur in der Zeit von 1979 bis 2011 an den Rand gedrückt und durch einen politischen Pragmatismus und Wirtschaftsliberalismus ersetzt. Noch heute ist der von Deng überlieferte Spruch „crossing the river by feeling the stones“ charakteristisch für den „Dengismus“. Und statt der Maoistischen Lehre galt: „Black cat or white cat, if it can catch mice, it’s a good cat.” Damit legte Deng den Grundstein für den kometenhaften wirtschaftlichen Aufstieg Chinas.

Unter Xi Jinping wird nun der Konfuzianismus mit marxistischer Etikette neu belebt. Chen Lai (2020) charakterisiert Xi Jinpings Ziele folgendermaßen:2

  • Wiederbelebung des Nationalbewusstseins;
  • Aufstellung moralischer Werte;
  • Organisierung einer ethischen Ordnung;
  • Aufstellung von Prinzipien für die Erziehung;
  • Herausbildung eines gemeinsamen Wertekanons;
  • Zusammenhalt durch den Nationalstaat;
  • Verbreitung unserer geistigen Zivilisation.

Geplant ist die große Wiederauferstehung der chinesischen Nation. Führt man die Analysen von Rong und Chen zu Ende, dann kann man die von Staatschef Xi Jinping begründete neu Ära als marxistisch verbrämten neuen Konfuzianismus verstehen. Dort will die Führung mit den Mitteln der künstlichen Intelligenz und „Big Data“ über das Volk herrschen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Graham Allison fasst Xis Agenda in einem Satz zusammen: „Make China Great Again!“3 Dazu will Xi Chinas wirtschaftlichen Wohlstand und seine politische sowie militärische Macht auf Weltniveau heben.

Die geopolitische Herausforderung

Auf geopolitischer Ebene strebt China regionale Dominanz und weltweiten Respekt für sich als globaler Hegemon an. In der Tradition der konfuzianischen Lehre fühlt sich die chinesische Nation kulturell überlegen und hält alle anderen Nationen in einer universellen politischen Hierarchie für nachgeordnet. Schon bei Konfuzius hieß es: „Wenn der Erdkreis in Ordnung ist, so gehen Kultur und Kunst, Kriege und Strafzüge vom Himmelssohn aus. Ist er nicht in Ordnung, so gehen Kultur und Kunst, Kriege und Strafzüge von den Lehnsfürsten aus.“

Allison (2019) hat 16 Fälle geopolitischer Rivalität in den letzten 500 Jahren untersucht. Seiner Analyse nach endeten 12 dieser Fälle im heißen Krieg. Die herausragende Ausnahme war die friedliche Abtretung der globalen Hegemonie von Großbritannien an die USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die USA und China sind jedoch kulturell zu verschieden, als dass dies ein Modell für ihre Rivalität sein könnte. Doch wäre es falsch, aus der Geschichte die Unvermeidlichkeit eines amerikanisch-chinesischen Kriegs herauszulesen. Für China ist Krieg seit jeher ein politisches Mittel der letzten Instanz. Und die USA sind nach den vielen Kriegen in Asien und im mittleren Osten während der letzten 70 Jahre kriegsmüde. Folglich könnte ein „Modus Vivendi“ von den beiden Supermächten auch auf friedliche Art gefunden werden.

Die wirtschaftliche Herausforderung

Auf wirtschaftlicher Ebene strebt China Technologiedominanz an. Dazu hat sich das Land über die letzten drei Jahrzehnte vom globalen Billiganbieter zum Technologieführer gewandelt. Allison spricht von der „STEM“ Revolution, wobei in dem Akronym S für Science, T für Technology, E für Engineering und M für Mathematics stehen. Jährlich erreichen etwa 1,3 Millionen junge Chinesen Abschlüsse in diesen Fächern. In den USA sind es jährlich rund 300.000. Regelmäßig belegen chinesische Schüler Spitzenplätze in den TIMSS und Pisa Tests auf mathematische Fähigkeiten:

TIMSS Test in Mathematik der Jahrgänge 2005-09 im Jahr 2015

(% der Kinder in der höchsten Leistungsstufe an der Gesamtzahl 
China30,0%
USA14,2%
Deutschland5,3%
Quelle: Gunnar Heinsohn 

 

PISA Test 2018 in Mathematik, Wissenschaft und Textverstehen

Gesamtpunktzahl für 15-jährige Schüler 
China578,7
Japan520,0
Deutschland500,3
USA495,0
Italien477,0
Quelle: OECD, PISA Studie 2018. 

In den Schriften des Konfuzius fragt der Diener Jan Yu den großen Meister während einer Reise durch das Land: „Wenn das Volk so zahlreich ist, was könnte man noch hinzufügen?“ Der Meister sprach: „Es wohlhabend machen“. Jan Yu fragte weiter: „Und wenn es wohlhabend ist, was kann man noch hinzufügen?“ Der Meister sprach: „Es bilden“. Wohlstand und Bildung – oder besser: Wohlstand durch Bildung – sind die großen strategischen Ziele auch des Chinas unserer Zeit.

Wie müsste eines westliche China-Strategie aussehen?

Der Westen im Allgemeinen und Deutschland im Besonderen können auf die geopolitische und wirtschaftliche Herausforderung auf drei Arten reagieren:

  1. mit der Akkommodation des Aufstiegs Chinas;
  2. mit der Unterminierung des Aufstiegs Chinas; oder
  3. mit dem Aushandeln einer Koexistenz nach den Prinzipien des Westfälischen Friedens der gegenseitigen Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.

Wie das Schicksal Hong Kongs zeigt, dürfte die Akkommodation letztlich in die Unterwerfung führen. Die Unterminierung birgt das Risiko, dass es zu militärischen Konflikten kommt, so dass als realistische Option eigentlich nur das Aushandeln einer friedlichen Koexistenz bleibt. Allerdings dürfte das nur in einem Schulterschluss mit den USA gelingen, da Europa allein wirtschaftlich und politisch zu schwach ist, um von China ernst genommen zu werden4. Vorrangiges Ziel der deutschen EU-Präsidentschaft müsste es also sein, die Partnerschaft mit den USA wieder zu stärken. Sollte Donald Trump als US Präsident wiedergewählt werden, kann die liberale Wertegemeinschaft nur gestärkt werden, indem sich Europa mit Japan, Südkorea und anderen ASEAN Staaten verbündet. Mit den USA dürften Partnerschaften allenfalls auf der Ebene der Bundesstaaten möglich sein.

Sollte Joe Biden dagegen zum nächsten Präsidenten gewählt werden, müsste Europa unter der Führung Deutschlands alles daransetzen, die atlantische Allianz und die NATO wiederzubeleben. Die Liefer- und Wertschöpfungsketten müssten in der westlichen Wirtschaft durch die Freihandelspakte TTIP (Europa und die USA), TPP (Japan und die USA), CETA (Europa und Kanada) und EPA (Europa und Kanada) gestärkt und teilweise gegen den Einfluss Chinas geschützt werden. Aber all dies wäre nicht genug, würde der Westen nicht auch die eigenen Fähigkeiten stärken. Dazu gehört eine Verbesserung der Bildung, mehr Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie die Stärkung militärischer Fähigkeiten, vom konventionellen und Cyber Krieg bis zur Spionageabwehr.

Freiheit, Mut und die Fähigkeit, Fehler zu korrigieren sind die Eigenschaften, die den Westen groß gemacht haben. Aus chinesischer Sicht hat der Westen seine Fähigkeiten zur Größe verloren. Er ist zum Abstieg verdammt. Doch es liegt in unserer eigenen Hand, ob wir die chinesische Einschätzung bestätigen oder wiederlegen.


1 Rong Jian, „A China Bereft of Thought.” In : Timothy Cheek, David Ownby, and Joshua A. Fogel, “Voices from the Chinese Century: Public Intellectual Debate from Contemporary China.” Columbia University Press (New York) 2020.

2 Chen Lai, „A century of Confucianism”. In : Timothy Cheek, David Ownby, and Joshua A. Fogel “Voices from the Chinese Century: Public Intellectual Debate from Contemporary China.” Columbia University Press (New York) 2020.

3 Allison, Graham, „Destined for War: Can America and China escape the Thucydides Trap?” London 2019.

4 Siehe auch:   https://www.youtube.com/watch?v=0kPPr8-CQA4

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