11.09.2023 - Kommentare

G20+, BRICS+ und China - Globale ökonomische und politische Minenfelder

von Norbert F. Tofall


Die Runde der G20 wurde auf ihrem Gipfel in Neu-Dehli um die Afrikanische Union, der 55 afrikanische Staaten angehören, und die BRICS wurden zwei Wochen zuvor in Johannesburg um sechs Staaten erweitert. Wird die Welt dadurch friedlicher? Oder könnte die Welt durch diese Erweiterungen nicht sogar konfliktreicher werden?

I.

Schon eine Woche nach Beendigung des BRICS-Gipfels in Johannesburg verweigerte der chinesische Staats- und Parteichef Xi Jinping seinem BRICS-Verbündeten Indien die Ehre und reiste nicht selbst zum vom Indien organisierten G20-Gipfel nach Neu-Dehli. China entsendete lediglich seinen Ministerpräsidenten. Und als ob das nicht bereits Affront genug war, legte China kurz nach dem BRICS-Gipfel in Johannesburg eine Landkarte mit Gebietsansprüchen vor, die unter anderem Indien betreffen. Noch in Johannesburg wurden die BRICS als Friedensprojekt gefeiert. Keine Woche später zeigt sich, daß die BRICS ein ökonomisches und politisches Minenfeld sind. Und das gilt erst recht für die BRICS Plus (oder BRICS+).

Am 24. August 2023 veröffentlichten die sogenannten BRICS-StaatenBrasilien, Russland, Indien, China und Südafrika eine auf den 23. August 2023 datierte Abschlußerklärung ihres 15. Gipfeltreffens in Johannesburg.2 Auf 26 Seiten werden 94 Punkte zum Thema „BRICS and Africa: Partnership for Mutually Accelerated Growth, Substainable Development and Inclusive Multilateralism” ausgeführt. Auf S. 26 wird unter dem Punkt 91 verkündet, daß ab dem 1. Januar 2024 Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate Vollmitglieder der BRICS werden können. Insbesondere China und Russland haben auf die Erweiterung der BRICS-Runde gedrängt. 23 Staaten hatten ihr konkretes Beitrittsinteresse bekundet.

Nach eigenen Angaben der BRICS-Staaten stehen ihre bisherigen fünf Mitgliedsländer für 42 Prozent der Weltbevölkerung und 24 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung. Durch die Aufnahme von Argentinien, Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate soll BRICS+ auf 46 Prozent der Weltbevölkerung und 37 Prozent des globalen BIP anwachsen. Das klingt ganz beachtlich, setzt aus der Perspektive politischer und ökonomischer Macht aber voraus, daß diese 46 Prozent der Weltbevölkerung und 37 Prozent des globalen BIP durch gemeinsame Regeln und effektive Regelsysteme wirksam verbunden werden. Die Addition ist sonst nur Augenwischerei und Propaganda.

Schon die derzeitige Verbindung der bisherigen fünf BRICS-Staaten ist allein aufgrund der sich feindlich gegenüberstehenden Mächte China und Indien wenig effektiv. Zudem dürften sich die Konflikte innerhalb der BRICS+ durch die Aufnahme der verfeindeten und Stellvertreterkriege ausfechtenden Staaten Iran und Saudi-Arabien weiter vergrößern. Angesichts der zu erwartenden Konfliktvermehrung innerhalb der BRICS+ und angesichts einer mangelhaften Verbindung der BRICS-Staaten durch gemeinsame Regeln und effektive Regelsysteme stellt sich die Frage, ob dadurch nicht neue und bisher unterdrückte internationale Auseinandersetzungen und Kriege folgen könnten? Und könnte nicht genau das die Absicht von Russland und vielleicht auch von China sein?

Die BRICS sind wirtschafts- und währungspolitisch nicht ansatzweise eine Europäische Union. Sie sind nicht einmal eine Zollunion und verteidigungspolitisch mitnichten auch nur eine Vorstufe einer NATO. Gemeinsame Regeln und effektive Regelsysteme existieren nicht. Und durch die Erweiterung der BRICS um sechs Staaten steigt das Konfliktpotential zwischen den elf Staaten weiter an. Nicht nur China und Indien stehen sich verfeindet gegenüber, sondern auch Iran und Saudi-Arabien. Dazu kommt, daß das außenpolitische Handeln von Russland auf Konflikt angelegt ist, was nicht nur bezüglich der Ukraine offensichtlich ist, sondern auch in Syrien und vielen Staaten Afrikas. Daß sich die BRICS+ zu einem Friedensprojekt entwickeln, ist deshalb sehr unwahrscheinlich. Im Moment scheinen die BRICS+ eher ein ökonomisches und politisches Minenfeld zu sein, das gezielt angelegt wird, um als Krisenbeschleuniger wirken zu können.

Wie eingangs bereits erwähnt, legte China keine Woche nach dem Ende des BRICS-Gipfels in Johannesburg eine Karte mit Gebietsansprüchen, insbesondere gegen Indien, vor und befeuert damit die zahlreichen Gebietskonflikte mit seinen Nachbarn. Diese Gebietsansprüche Chinas sind zwar nicht neu, die erneute Formulierung kurz vor dem G20-Gipfel in Indien war aber sicherlich kein Zufall. China beansprucht Taiwan, die indischen Gebiete Arunachal Pradesh und Aksai Chin, fast das gesamte Südchinesische Meer sowie den russischen Teil der Halbinsel Bolschoi Ussurijski.

Indien, Malaysia und die Philippinen haben umgehend Protest gegen diese Gebietsansprüche eingelegt, gefolgt von Indonesien, Vietnam und Brunei, was auch angesichts des kurz vor dem G20-Gipfel stattgefundenen ASEAN-Gipfels interessant ist, da Malaysia, die Philippinen, Indonesien, Vietnam und Brunei Mitglieder der ASEAN-Staaten sind. Insgesamt entsteht mehr und mehr der Eindruck, daß China nicht an einem gedeihlichen Miteinander in diesen Organisationen interessiert ist, sondern an der Hervorhebung und Durchsetzung seiner Hegemonialansprüche.

Auch das Verhältnis von China zu Russland hat mit einer Partnerschaft wenig gemein. Russland hat sich durch seinen Krieg in der Ukraine zum Juniorpartner von China degradiert, obwohl Russland durch seinen Ukraine-Krieg imperiale Hegemonie anstrebt. Putins Invasion in die Ukraine ist der verzweifelte Versuch, die von ihm schon lange angestrebte Eurasische Union mit Blut und Gewalt zu schmieden. China hat jedoch an einer Eurasischen Union nicht das geringste Interesse. Deshalb verhält sich China im derzeitigen Ukraine-Konflikt so, daß Russland dauerhaft Chinas Juniorpartner bleiben muß. Dieser Juniorpartner soll zwar aus Sicht von China nicht so geschwächt werden, daß China ökonomisch und politisch keinen Nutzen mehr aus Russland als Feind des Westens ziehen kann. Russland soll aber mitnichten in der Lage sein, die Hegemonialansprüche Chinas zu begrenzen.

Andererseits wird sich Russland sicherlich nicht mit der Rolle als Juniorpartner von China abfinden wollen und Konflikte global da schüren, wo es Russland vermeintlich nutzt, und das – wenn der Ukraine-Krieg auf die eine oder andere Art beendet sein wird – im Zweifelsfall auch gegen China. Das heißt, das Verhältnis von China und Russland ist allen öffentlichen Bekundungen zum Trotz nicht auf Friedensförderung angelegt, sondern auf Krisenbeschleunigung.

Über das Verhältnis von Iran und Saudi-Arabien braucht kein weiteres Wort verloren zu werden, um zu erkennen, daß die Protagonisten der BRICS-Erweiterung, China und Russland, gezielt ökonomische und politische Minenfelder anlegen, um Konflikte auszuweiten, in welche der Westen über ökonomische und politische Beziehungen involviert ist. Da Russland und China die Weltwirtschaft und die internationalen Beziehungen neu ordnen wollen, sind beide an neuen Konflikten und Krisen interessiert, um die bestehende Ordnung zu zerstören.

 

II.

Die Erweiterung der G20 um die Afrikanische Union, welche 55 afrikanische Staaten umfaßt, wird als die Einbindung und Anerkennung des "Globalen Südens“ gefeiert. Handlungsfähiger werden die G20+ dadurch aber sicherlich nicht werden. Das Gegenteil ist wahrscheinlich. Denn bei Betrachtung der auf dem Gipfel in Neu-Dehli formulierten Ziele steht angesichts der durch die Erweiterung erhöhten Interessenkonflikte fest, daß konkrete Handlungen in Zukunft noch unwahrscheinlicher werden. Unter Punkt 5 der Abschlußerklärung „One Earth – One Family – One Future“ heißt es:3

„Als Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der G20, dem zentralen Forum für globale wirtschaftliche Zusammenarbeit, sind wir zu konkretem Handeln im Rahmen von Partnerschaften entschlossen. Wir verpflichten uns,

a. starkes, nachhaltiges, ausgewogenes und inklusives Wachstum zu beschleunigen.

b. die vollständige und wirksame Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung schneller voranzutreiben.

c. an Treibhausgasemissionen/CO2-Emissionen arme sowie klimaresiliente und ökologisch nachhaltige Entwicklungswege anzustreben, indem wir für einen integrierten und inklusiven Ansatz eintreten. Wir werden unsere Maßnahmen zur Bewältigung entwicklungs- und klimabezogener Herausforderungen mit großer Dringlichkeit beschleunigen, Lebensweisen zugunsten einer nachhaltigen Entwicklung (Lifestyles for Sustainable Development, LiFE) fördern sowie die biologische Vielfalt, Wälder und Weltmeere erhalten.

d. medizinische Gegenmaßnahmen in Entwicklungsländern leichter zugänglich zu machen und dort eine bessere Versorgung und mehr Produktionskapazitäten zu ermöglichen, um besser auf künftige gesundheitliche Notlagen vorbereitet zu sein.

e. resilientes Wachstum durch das rasche und wirksame Angehen von Schuldenanfälligkeiten in Entwicklungsländern zu fördern.

f. Finanzmittel aus allen Quellen zu erhöhen, um mit Blick auf die SDG zügiger Fortschritte zu erzielen.

g. Anstrengungen zu beschleunigen und Ressourcen zu erhöhen, um das Übereinkommen von Paris einschließlich seines Temperaturziels zu verwirklichen.

h. Reformen zugunsten von besseren, größeren und wirksameren multilateralen Entwicklungsbanken zu verfolgen, um die globalen Herausforderungen zu bewältigen und entwicklungsfördernde Auswirkungen zu maximieren.

i. den Zugang zu digitalen Diensten und zur öffentlichen IT-Infrastruktur zu verbessern sowie die Chancen des digitalen Wandels zu nutzen, um nachhaltiges und inklusives Wachstum anzuregen.

j. nachhaltige, hochwertige, gesunde und sichere Erwerbstätigkeit zu fördern.

k. geschlechtsspezifische Benachteiligungen zu überwinden und die uneingeschränkte, gleichberechtigte, wirksame und wahrhafte Teilhabe von Frauen als Entscheidungsträgerinnen in der Wirtschaft zu fördern.

l. die Sichtweisen der Entwicklungsländer, darunter auch die am wenigsten entwickelten Länder (LDC), die Binnenentwicklungsländer (LLDC) und die kleinen Inselentwicklungsländer (SIDS), besser in die zukünftige G20-Agenda zu integrieren und die Stimme der Entwicklungsländer in globalen Entscheidungsprozessen zu stärken.“

Und unter Punkt 76 wird ausgeführt:

„Wir begrüßen die Afrikanische Union als ständiges Mitglied der G20 und sind fest davon überzeugt, dass die Einbeziehung der Afrikanischen Union in die G20 einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung der globalen Herausforderungen unserer Zeit leisten wird. Wir würdigen die Bemühungen aller G20-Mitglieder, die den Weg dafür geebnet haben, dass die Afrikanische Union als ständiges Mitglied während der indischen G20-Präsidentschaft beitreten kann. Afrika spielt eine wichtige Rolle in der Weltwirtschaft. Wir setzen uns dafür ein, unsere Beziehungen mit der Afrikanischen Union zu stärken, und unterstützen sie dabei, die Bestrebungen im Rahmen der Agenda 2063 zu verwirklichen. Wir bekräftigen ferner unsere entschiedene Unterstützung für Afrika, auch im Rahmen der G20-Initiative „Compact with Africa“ und der G20-Initiative zur Förderung der Industrialisierung in Afrika und in den am wenigsten entwickelten Ländern. Wir unterstützen weitere Gespräche über die Vertiefung der Zusammenarbeit zwischen der G20 und regionalen Partnern.“

Das klingt auf dem Papier alles sehr löblich. Allerdings besteht die Afrikanische Union aus 55 Staaten, die untereinander vielfach verfeindet sind. Wirksame Regeln und effektive Regelsysteme, welche die Interessenkonflikte dieser 55 Staaten in geordnete Bahnen lenken, existieren nur sehr rudimentär. Und vergleicht man die unter Punkt 5 der G20-Abschlußerklärung von Neu-Dehli aufgezählten Ziele mit der konkreten Politik vieler afrikanischer Regierungen, dann wird mehr als deutlich, daß die G20+ kaum handlungsfähig sein werden. Im Grunde sind die G20+ allein schon aufgrund des Systemkonflikts zwischen China und den USA, aufgrund der Feindschaft zwischen Indien und China und aufgrund Russlands Krieg in der Ukraine bereits jetzt nicht handlungsfähig. Und die Erweiterung um die Afrikanische Union ist Augenwischerei, welche von dieser Handlungsunfähigkeit ablenken soll.

Nichtsdestotrotz ergibt die Erweiterung der G20 um die Afrikanische Union Sinn, allerdings nicht für die G20 als Institution, sondern für einzelne ihrer Mitglieder. Die USA und die EU wollen die Länder Afrikas ebenso auf ihre Seite ziehen wie China und Russland. Indien will als Sprecher des Globalen Südens die Länder Afrikas auf seine Seite ziehen, während die USA und die EU wiederum Indien auf ihre Seite ziehen wollen, indem sie Indiens Forderung auf Erweiterung der G20 um die Afrikanische Union unterstützt haben. Jenseits der schön formulierten Eine-Welt-Ziele in der G20-Abschlußerklärung geht es um Geopolitik und Systemkonflikte. Daß damit Konflikte ansteigen und verschärft werden und sich Krisen im Zweifelsfall beschleunigen können, liegt auf der Hand. Es wird innerhalb der G20 heute nicht an einem Strang gezogen. Vielmehr handelt es sich um ein Tauziehen und um einen Kampf um Einflußzonen.

Dieses Problem kennen wir zwar seit Jahren auch aus anderen internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen oder der WTO. Die G7 und später die G20 sind jedoch nicht als Gesprächsformate gegründet worden, um diese machtpolitischen Konstellationen zu verdoppeln, sondern um sie zu entschärfen. Heute sind die G20 im besten Falle auf dem Weg zu einer Art Ersatz-UN, im schlechteren Fall entwickeln sie sich zu einem ökonomischen und politischen Minenfeld. Da China und Russland die Weltwirtschaft und die internationalen Beziehungen verändern wollen, werden sie versucht sein, einige dieser ökonomischen und politischen Minen hochgehen zu lassen. Indien scheint sich selbst indes als eine Art blockfreier Staat zu verstehen.

In dieser Konstellation wird sich der Westen gegen China nur behaupten, wenn er ökonomisch und politisch zusammensteht. Betrachtet man die kumulierten nominellen Bruttoinlandsprodukte von ausgewählten westlichen Staaten im Vergleich zu China, siehe Schaubild,

dann sticht ins Auge, daß China aufgrund seines enormen Wachstums in den letzten Jahrzehnten heute zwar mit allen westlichen Staaten konkurrieren und sie teilweise sogar dominieren kann. China dürfte jedoch gegen eine westliche Allianz seine Hegemonialansprüche und sein Dominanzstreben nur schwer durchzusetzen in der Lage sein.

Aus diesem Grund ergreift China jede Gelegenheit, um den Westen zu spalten und die westlichen Staaten gegeneinander auszuspielen. BRICS+ und G20+ sind dabei nur Mittel zum Zweck. Für den Westen ist deshalb eine gemeinsame China-Strategie wichtiger als G20-Erklärungen.

 

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