06.07.2022 - Kommentare

Zeitenwende in den Inflationserwartungen

von Marius Kleinheyer


Die Stabilität der Inflationserwartungen ist die letzte Bastion gegen eine länger anhaltende Inflation. Denn wenn die Inflationserwartungen steigen, droht eine Preis-Lohn-Preis-Spirale. Die Preise steigen, weil die Leute erwarten, dass sie steigen. So, wie es der berühmte Fed-Chairman und berüchtigte Inflationsbezwinger Paul Volcker ausdrückte: „Inflation feeds in part on itself, so part of the job of returning to a more stable and more productive economy must be to break the grip of inflationary expectations.“1

Die EZB will die Inflationserwartungen durch ihre Kommunikation im Griff halten. Dazu versuchen sie, diese Erwartungen mittel und langfristig bei ihrem Zielwert von etwa zwei Prozent Inflationsrate im Jahr zu verankern. Das gelingt scheinbar auch, zumindest wenn man die regelmäßig veröffentlichten Prognosen von Zentralbankern und Experten betrachtet. So misst zum Beispiel das „ECB Survey of Professional Forecasters“ (ECB SPF) quartalsweise die Erwartungen von Volkswirten für Inflation, Bruttoinlandsprodukt und Arbeitslosigkeit. Die jüngst erschienen Zahlen aus den zweiten Quartal 2022 zeigen eine erwartete Inflationsrate für das Jahr 2022 von 6,0 Prozent an. Für das Jahr 2023 wird mit einer Inflation von 2,4 Prozent gerechnet und 2024 ist man schon wieder bei der Zielvorstellung von 1,9 Prozent angelangt. Mit dieser Prognose ist man in guter Gesellschaft. Die mit makroökonomischen Projektionen befassten Mitarbeiter der EZB sowie zwei andere Expertenumfragen unter Ökonomen kommen zu relativ ähnlichen Ergebnissen.

Allerdings dürfte die Übereinstimmung durch „Group Thinking“ der Prognostiker zu Stande kommen, die sich alle an den gleichen Prognosemodellen orientieren. Die Ökonomen Daniel Gros und Farzaneh Shamsfakhr vom Brüsseler Think Tank „Center for European Studies“ haben sich in einer aktuellen Studie mit dem Prognosemodell der EZB auseinandergesetzt.3 Sie stellen fest, dass die Inflation innerhalb von zwei Jahren grundsätzlich wieder im Zielbereich von etwa zwei Prozent zu liegen kommt, auch wenn der Ausgangspunkt immer weiter ansteigt. Das ist kein Zufall, sondern Teil der Erwartungsbildung in den Modellen, die sich annahmegemäß am Ziel der EZB orientiert. Geht man zum Beispiel davon aus, dass die Energiepreise auf dem hohen Niveau bleiben, sich aber ansonsten nichts verändert, kommt die Inflationsrate von alleine wieder zurück, eben weil die Avatare in den Modellen unerschütterlich an die EZB glauben:

 „These models imply that any wage pressure would be neutralized because the models assume explicitly that the ECB has an inflation target of 1.9% and that this will be reached because rational agents assume that it will be reached.“4

Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass selbst eine anziehende Inflation aufgrund weiterer Angebotsverknappung von russischem Gas in der Modellwelt der EZB ein Grund für eine noch expansivere Geldpolitik wäre.

Tatsächlich kommt die EZB in ihrem Bericht zu den „ECB staff macroeconomic projections“ vom März 2022 zu dem Schluss:

„(…) As oil and gas markets rebalance, the large spikes in energy prices would gradually unwind, causing inflation to decline below the baseline, especially in 2024.”5

So verrückt es klingt: Die Modelle raten zu niedrigeren Zinsen, wenn die Energiepreise steigen, weil dadurch angeblich die Inflation in der Zukunft zu niedrig ausfällt. Das erinnert an die Inflationstheorie des türkischen Präsidenten Erdogan, der hohe Inflation mit Zinssenkungen bekämpfen will.

Dem gesunden Menschenverstand leuchtet das nicht ein. Eine im Juni veröffentlichte Studie der Bundesbank zeigt, dass die Inflationserwartungen der Deutschen bereits 2021 deutlich angestiegen sind und 2022 nochmal einen Sprung gemacht haben.6 Im Mai 2022 hat die Inflationserwartung der Privatpersonen für die kommenden 12 Monate sieben Prozent erreicht. Auch die Erwartungen für die nächsten 5 und 10 Jahre sind deutlich angestiegen und liegen bei über fünf beziehungsweise über vier Prozent.7

Wenn eine hohe Inflation erwartet wird, wollen die Arbeitnehmer zum Ausgleich höhere Löhne. Aus der Inflationszeit der 1970er Jahren ist allgemein bekannt, dass die Gewerkschaft ÖTV unter Heinz Klunker im Jahr 1974 eine Lohnerhöhung von elf Prozent durchsetzte.8 Eine ähnliche Entwicklung droht heute wieder. So fordert die Gewerkschaft IGM-Metall für die 3,8 Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie eine Lohnerhöhung von 8 Prozent. Letzten Monat wurde für Stahlarbeiter eine Lohnerhöhung von 6,5 Prozent für die nächsten 18 Monate ausgemacht, zusätzlich eine Einmalzahlung von 500 Euro. Der gesetzliche Mindestlohn wird im Oktober um 25 Prozent steigen.

Mit Gesundbeten wird die EZB die Inflationskrankheit nicht kurieren können. Wie die US Federal Reserve zeigt, sind dafür kräftige Zinserhöhungen notwendig. Dazu scheint der EZB aber der Mut zu fehlen.


1 Statement by Paul Volcker, Chairman, Board of Governors of the Federal Reserve System, before the Joint Economic Committee of the U.S. Congress, Oct. 17, 1979, reprinted in Federal Reserve Bulletin, vol. 65, November 1979, pp. 888–90.

2 ECB SPF 2. Quartal 2022, siehe: www.ecb.europa.eu/stats/ecb_surveys/survey_of_professional_forecasters/html/ecb.spf2022q2~1182c59cb8.en.html, insbesondere Tabelle 1.

3 Gros, Daniel et al. (2022) The ECB´s normalization path: model rather than data driven, siehe: www.ceps.eu/download/publication/

4 Gros, Daniel et al. (2022) The ECB´s normalization path: model rather than data driven.

5 ECB staff macroeconomic projections for the euro area (March 2022), siehe: www.ecb.europa.eu/pub/projections/html/ecb.projections202203_ecbstaff~44f998dfd7.en.html

6 Bundesbank (2022), siehe: www.bundesbank.de/de/bundesbank/forschung/erwartungsstudie/ergebnisse/inflationserwartungen-849084

7 Ibid.

8 Schnabl, Gunther (2022) Zurück in den 1970er Jahren? Der Wettlauf von Preisen und Löhnen hat begonnen, WELT, 28.03.2022.

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