12.06.2020 - Kommentare

Zweite Welle? Kabbelwasser!

von Philipp Immenkötter


Es gibt keine einheitliche epidemiologische Meinung, wie die Pandemie in Deutschland weiter verlaufen wird. Dennoch ist vermehrt zu vernehmen, dass Virologen keinen zweiten wellenartigen Ausbruch erwarten, der einen erneuten bundesweiten Lockdown erzwingen würde. Vielmehr sei mit lokalen Ausbrüchen zu rechnen, die regionale Einschränkungen bewirken könnten.1 Es sollte Deutschland also eher Kabbelwasser2 als eine große Welle bevorstehen.

Für den Verlauf einer Epidemie ist entscheidend, über welche Kanäle sich das Virus in die Bevölkerung einschleicht. Die Infektionswelle des Frühjahrs erfolgte in Deutschland primär durch junge Skifahrer, die sich im März in Ischgl infiziert hatten und das Virus anschließend unwissentlich in der ganzen Republik verteilten. Ein zweiter Hotspot entwickelte sich in der Gemeinde Gangelt, wo es durch eine Karnevalsfeier unbemerkt zur Ausbreitung des Virus kam. Durch diese sogenannten Super-Spreading-Events verbreitete sich das Virus in der Bevölkerung und es kam zu einem wellenartigen Ausbruch.

Die Vorsicht der Bevölkerung, Versammlungsverbote und weitere behördlichen Maßnahmen haben bewirkt, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Coronavirus in Deutschland stark zurückging und Anfang Juni die Anzahl gemeldeter Neuinfektionen sogar auf 3.000 innerhalb einer Woche gefallen ist. Anfang April lag die wöchentliche Anzahl der gemeldeten Neuinfektionen noch bei 40.000.3

Jedoch haben auch Vorsicht und Maßnahmen ihre Grenzen. Zum einen treten mehr und mehr Lockerungen in Kraft und zum anderen drängt die Bevölkerung wieder darauf, zu einem halbwegs normalen Alltag zurückkehren. Der Gewöhnungseffekt hilft dabei weiter. Menschen verlieren Angst, wenn sie einer Gefahr stetig oder wiederholt ausgesetzt sind. In der Psychologie wird dieser Lerneffekt als Habitation bezeichnet. Wird man wiederholt einem Reiz ausgesetzt, nimmt die Reaktion auf diesen ab. Die Bevölkerung läuft demnach Gefahr, sich an die Infektionsgefahr durch Covid-19 zu gewöhnen und diese zunehmend zu ignorieren.

Dass Vorsicht und Akzeptanz der Eindämmungsmaßnahmen in Deutschland abnehmen, zeigen die Bilder der Demo auf der Spree. Das Bedürfnis nach Entertainment scheint nach Monaten ohne Clubs und Partys die nichtgreifbare Gefahr zu verdrängen. Auch die Bilder der Anti-Rassismus Demos Anfang Juni deuten auf nachlassende Vorsicht und Sorgen hin.

Auch sollte man keine Hoffnung hegen, dass eine mögliche Herdenimmunität bereits Schutz vor der weiteren Ausbreitung des Virus entfaltet. Nutzt man die von der Universität Bonn geschätzte Infektionssterblichkeit von 0,37 %4, um anhand der gemeldeten Todesfälle die Gesamtzahl aller Infektionen zu schätzen, kommt man für Deutschland auf rund 2,4 Millionen Fälle (Stand 09.06.2020). Somit wären erst 2,9 % der deutschen Bevölkerung immun. Auch wenn die Ergebnisse der Bonner Studie nicht ohne Weiteres auf Deutschland übertragbar sind, so deutet die Größenordnung dennoch an, dass man von einer Herdenimmunität noch weit entfernt ist.

Die Möglichkeit, sich über Wochen hinweg unbemerkt in der Bevölkerung zu verbreiten, ist dem Virus durch Aufklärung der Bevölkerung genommen worden. Das Normalitäts- und Freiheitsbedürfnis der Menschen wird jedoch bewirken, dass es immer wieder zu vereinzelten konzentrierten Ausbrüchen kommen wird, wie sie in den letzten Wochen durch Familienfeiern und Gottesdienste sowie bei den Angestellten in Schlachthofbetrieben beobachtet wurden.

Da aktuell die Kapazitäten der Gesundheitsämter nicht ausgelastet sind, besteht große Hoffnung, dass bei lokalen Ausbrüchen eine intensive Kontaktnachverfolgung durchgeführt werden kann und so eine weitere Ausbreitung weitestgehend eingedämmt wird.

Angesichts dieser Tatsachen scheint die Bezeichnung „zweite Welle“ nicht treffend für die zukünftige Entwicklung der Pandemie in Deutschland zu sein, da sie impliziert, dass man von einem erneuten exponentiellen Anstieg der Fallzahlen überschwemmt wird. Die zukünftige Verlaufskurve könnte eher Kabbelwasser gleichen, wie die Wasseroberfälle eines Sees bei starkem Wind und Wetter. Klickt man sich auf dem COVID-19-Dashboards des Robert Koch Instituts durch die Bundesländer oder einzelne Landkreise, so ist seit Anfang Mai solch eine Streuung der neuen Fälle nach Erkrankungsbeginn zu beobachten.


1 Bspw. Christian Drosten auf Spiegel Online, 29.05.2020, Hendrik Streeck im General-Anzeiger, 26.05.2020.

2 Unruhige Wasseroberfläche, die durch Wind und Strömung erzeugt wird, ähnlich einer Buckelpiste.

3 Statistiken des Robert Koch Instituts

4Streeck et al. „Infection fatality rate of SARS-CoV-2 infection in a German community with a super-spreading event” (02.06.2020)

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