20.05.2020 - Kommentare

Übersterblichkeit – das bessere Maß?

von Philipp Immenkötter


Die Übersterblichkeit (Todesfälle im Vergleich zu den Vorjahren) gibt Auskunft über die Entwicklung und das Ausmaß der Covid-19-Pandemie. Vorteil der Betrachtungsweise ist die Unabhängigkeit vom Erhebungsverfahren der Behörden, nachteilig sind die zeitliche Verzögerung sowie Annahmen über den zugrunde liegenden Vergleichsmaßstab.

Die offiziellen Statistiken zu Covid-19 Toten erfassen das Ausmaß der Pandemie nicht vollständig. Je nach Land und Todesumstand ist es möglich, dass ein Todesfall nicht einer Covid-19-Erkrankung zugeordnet wird (Todesfälle außerhalb Krankenhäusern, andere festgehaltene Hauptursache, unerkannte bzw. ungetestete Covid-19-Erkrankung oder bewusste Geheimhaltung). Wird der Todesfall jedoch in einer allgemeinen Datenbank dokumentiert, so kann man eine sogenannte Übersterblichkeit berechnen. Diese entspricht der Differenz zwischen den dokumentierten Todesfällen und der üblichen Höhe der Todesfälle zu der Jahreszeit. Ein Vergleich mit der jeweiligen Jahreszeit ist notwendig, da Todesfälle saisonal auf Grund anderer Infektionskrankheiten schwanken.

Die aktuell verfügbaren Statistiken zur Sterblichkeit geben Auskunft über die schwere der Pandemie vor rund ein bis zwei Monaten. Zum einen liegt der aktuelle Datenrand meist mehrere Wochen zurück. Zum anderen spiegeln die Todesfälle das Infektionsgeschehen vor nochmaligen 3 bis 5 Wochen wider.

Kalenderwoche 16 (Mitte April)              

Deutschland

Gesamte Todesfälle19.400
Vergleichswert (2016 - 2019)18.104
Übersterblichkeit1.336
Corona-Todesfälle1.620
Differenz-284

 Quelle: destatis.de

Mitte April lag die Übersterblichkeit in Deutschland unterhalb der Covid-19 Todesfälle. Es lag zwar eine Übersterblichkeit vor, jedoch kann diese vollständig durch Covid-19 erklärt werden. Der Vergleichswert unterliegt allerdings Annahmen (hier: die betrachteten Jahre) und hat einen erheblichen Einfluss auf das Resultat. Wären bspw. die Grippewellen der letzten Jahre heftiger gewesen, würde die Übersterblichkeit geringer ausfallen. Dies erklärt meist auch die Unterschiede der Übersterblichkeit eines Landes aus verschiedenen Quellen.

Neben der Schwere der Pandemie, gibt es kurzfristige indirekte Folgen, welche die Übersterblichkeit verzerren können. Bspw. reduzieren Lockdowns die Anzahl der Verkehrstoten und Arbeitsunfälle. Für Deutschland ist dies jedoch zu vernachlässigen, da die so bedingten Todesfälle nur 60 bzw. 10 pro Woche betragen.1 Ebenso haben es auch andere Infektionskrankheiten durch Kontaktbeschränkungen schwerer, sich zu verbreiten, was bspw. die Anzahl der Grippetoten verringert. Mitte April war die Grippesaison jedoch bereits deutlich abgeflacht, so dass dieser Effekt ebenso gering ist.

Auch langfristig wird die Covid-19-Pandemie einen indirekten Einfluss auf die Todesfälle haben. Eine veränderte Lebensweise (erhöhter Alkohol- und Tabakkonsum, psychologische Folgen der Isolation, mangelnde Bewegung oder Ernährung) kann langfristig die Anzahl der Todesfälle erhöhen. Im Schnitt versterben wöchentlich in Deutschland rund 1.400 Menschen auf Grund der Folgen von Alkoholkonsum, 2.300 von Tabakkonsum und es kommt zu 200 Suiziden.2 Verzichten Menschen auf Arztbesuche, so können Krankheiten zu spät diagnostiziert werden, welche den langfristigen Verlauf erschweren und die Sterblichkeit erhöhen könnten. In den aktuellen Zahlen sollten diese Effekte jedoch noch nicht zu finden sein. Eine Prognose fälle äußerst schwer.

Häufig wird argumentiert, dass viele Corona-Todesfälle durch Vorerkrankungen bereits eine reduzierte Lebenserwartung hatten und somit die Infektionssterblichkeit verzerren. Kurzfristig steigt dadurch die Anzahl der Todesfälle, mittelfristig sollte dies aber die Anzahl verringern, da die Todeszeitpunkte „vorweggenommen“ wurden. Langfristig dürfte kein Effekt zu erwarten sein.

Das Dashboard von The Economist stellt ein umfangreiches, regelmäßig aktualisiertes Dashboard zur Übersterblichkeit zur Verfügung. Alternativ findet man bei der New York Times ebenfalls eine gute Aufbereitung der Daten.

Die Daten des Economist und der New York Times zeigen, dass in Europa die Übersterblichkeit am jüngsten Datenrand (April) bereits rückläufig ist. In Lateinamerika, das erst später von der Pandemie erreicht wurde, steigt im April die Übersterblichkeit weiter an. Durch das beschriebene „vorwegnehmen“ der Todesfälle mit schweren Vorerkrankungen ist zu erwarten, dass bei einer abflachenden Pandemie sowohl die „normalen“ Todesfälle unter den Vergleichswert fallen, so dass ggf. sogar die Übersterblichkeit negativ wird. In Spanien ist diese Entwicklung Ende April bereits zu erkennen.

The Economist schlüsselt die Übersterblichkeit mittels Daten von Euromomo.de auf das Alter der Verstorbenen auf. In Europa wird sowohl bei über 15-Jährigen als auch bei über 65-jährigen eine Übersterblichkeit festgestellt. Bei Kindern hingegen nicht.

Die Übersterblichkeit und der durch Covid-19 erklärte Anteil der Todesfälle variiert zwischen den betrachteten Ländern stark. Es ist nicht zu erwarten, dass weltweit die Infektionssterblichkeit und die Übersterblichkeit von Covid-19 gleich hoch ausfällt. Die Strategie der Behörden, die allgemeine Gesundheitslage der Bevölkerung, der Altersschnitt, die Kapazität des Gesundheitssystems und das Zustandekommen der Infektionsketten hat eine erheblichen Einfluss auf die Todeszahlen.

So ist die Übersterblichkeit zwar eine aufschlussreiche Kennzahl bei der Analyse der Corona-Pandemie, jedoch besitzt sie wie auch der Verlauf aktiver Fälle ebenfalls Nachteile.


1 Vgl. destatis.de: Verkehrstote, Statista.de: Arbeitsunfälle

2 Vgl. destatis.de: Suizide, aerzteblatt.de: Tote durch Tabakkonsum, John/Hanke in Alcohol and Alcoholism (73, 2002).

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