15.04.2020 - Kommentare

Corona: Prognosen und ihre Probleme

von Philipp Immenkötter


Täglich prasseln Erkenntnisse über das Coronavirus und die mögliche zukünftige Entwicklung auf uns ein. Es stehen viele Prognosen im Raum, die Hoffnung auf eine Lockerung der Einschränkungen für Arbeit und Leben machen. Andere Prognosen legen wiederum eine Überlastung des Gesundheitssystems nahe. Mit welchen Problemen sind Prognosen behaftet und wie steht es um die Kapazität des Gesundheitssystems?

Ausgang für eine Prognose ist meist der bisherige Verlauf der Pandemie in den einzelnen Länder, der über die Anzahl registrierter aktiver Fälle ermittelt wird. In der folgenden Grafik ist der Verlauf für ein paar Länder beispielhaft dargestellt. In Deutschland scheint ein vorläufiger Höhepunkt der Corona-Pandemie erreicht zu sein. Seit mehreren Tagen schon ist die Anzahl aufgedeckter aktiver Fälle rückläufig. In Österreich hat sich bereits Anfang April ein ähnliches Bild abgezeichnet und die Anzahl aktiver Fälle liegt bereits wieder ein Drittel unterhalb der Spitze. In Spanien hat das Wachstum deutlich nachgelassen, während die Niederlande noch weit davon entfernt scheinen.

Es drängt sich die Frage auf, wann auch in Spanien und den Niederlanden die Spitze der Epidemie erreicht wird. Statistiker greifen gerne zu logistischen Modellen, um solche Prognosen anzustellen. Dies sind mathematische Modelle mit denen ohne viel Aufwand eine S-förmige Kurve, wie sie bei der kumulierten Anzahl registrierter Fälle vorliegt, geschätzt werden kann. Ein bedeutender Nachteil logistischer Modelle ist, dass sie auf Grund ihrer einfachen Beschaffenheit kaum auf Eigenschaften des zugrundeliegenden Untersuchungsgegenstands eingehen. Dem Modell ist es egal, ob es chemische Reaktionen, Wirtschaftszyklen oder eben die Ausbreitung von Epidemien als Datengrundlage gefüttert bekommt.

Einen in der Epidemiologie häufiger genutzten Ansatz stellen SIR-Modelle dar. Ausgehend von Grundeigenschaften einer Population und dem Verlauf einer Erkrankung werden Infektionsraten und weitere Parameter geschätzt. Das Modell kann leicht erweitert werden, um verschiedene Eigenschaften eines Virus oder verändertes Verhalten der Population zu modellieren.

Zwar bieten sich SIR-Modell für was-wäre-wenn Rechnungen an, aber sie stehen genau wie die logistischen Modelle vor drei nicht minderschweren Problemen.

Erstens basieren modelbasierte Prognosen stets auf Falldaten, die mit einer großen Unsicherheit behaftet sind. Nur in Ländern, die ausreichend viele Tests durchführen, können überhaupt Neuinfektionen erfasst werden und genesene Patienten werden zu teilen nicht gemeldet. Viele Prognosen basieren daher auf der Anzahl der Todesfälle, jedoch ist COVID-19 eine sehr langsam verlaufende Krankheit, so dass die Todesfälle heute den Stand der Infektionen vor einigen Wochen widerspiegeln, nicht aber die aktuelle Lage.

Zweites verbreiten sich Viren meist in rasanter Geschwindigkeit, so dass ein exponentielles Wachstum geschätzt werden muss. Dies bedeutet jedoch auch, dass sich Prognosefehler ebenfalls exponentiell fortpflanzen und somit nur sehr vage Aussagen entstehen. Eine nur kleine Änderung der Ausgangslage, kann eine Prognose von 10.000 Fällen auf 100.000 Fällen ansteigen lassen.

Drittens hängt der beobachtete Verlauf von dem Verhalten der Bevölkerung in der Vergangenheit ab. Veränderungen der Maßnahmen wie einer Wiederöffnung von Schulen verändern das Verhalten und somit auch das Wachstum der Neuinfektionen. Daten, die sich auf die Vergangenheit beziehen, werden so nahezu nutzlos, um den künftigen Verlauf zu prognostizieren. Besonders logistische Modelle leiden unter diesem Problem, da die langfristige Anzahl infizierter Personen einen Parameter darstellt, der unmöglich bestimmt werden kann.

Prognosen anhand logistischer Modelle leiden besonders unter dem zweiten und dritten Problem. Ein zu schätzender Parameter in diesem Modellen ist die langfristige Anzahl infizierter Personen. Diese ist jedoch auf Grund des exponentiellen Wachstums und Veränderungen in den Verhaltensweisen der Bevölkerung nahezu unmöglich präzise zu bestimmen.

Angesichts dieser Probleme bietet sich eine andere Variable zur Einschätzung der Dynamik einer Epidemie an: Die Auslastung des Gesundheitssystems. Eine Überlastung der Kapazität des Gesundheitssystem entsteht, wenn Menschen nicht geholfen werden kann, die bei einer Behandlung überlebt hätten. Um hierüber einen Überblick zu haben, ist Anfang April in Zusammenarbeit des Robert Koch Institutes, der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) sowie der Deutschen Krankenhausgesellschaft das DIVI Intensivregister entstanden. Das Register gibt täglich Auskunft über die Auslastung der Intensivstationen deutscher Krankenhäuser. Mehr als 20.000 Betten auf den Intensivstationen sind aktuell gemeldet und betreibbar und diese sind zu rund 40 % ausgelastet. Lediglich ein Viertel der Patienten auf den Intensivstationen sind Fälle von COVID-19, von denen wiederum rund drei Viertel beatmet werden müssen.

Der befürchtete Ansturm ist in Deutschland bislang ausgeblieben. Weder droht die Kapazität des Gesundheitssystems zu überlasten noch, dass die Auslastung jüngst angestiegen ist. Die Zeichen für eine Lockerung sollten zumindest in Deutschland daher gut sein, wenn auch hier mit einem erheblichen Zeitverzug zu rechnen ist.

Fazit: Die Ausbreitung einer Epidemie kann nur unzulänglich prognostiziert werden. Entscheidend ist aber letztlich, ob erkrankte Menschen medizinisch gut versorgt werden können. Deshalb ist es wohl unausweichlich, die Erfassung und Prognose von Infektionen mit der Belastung des Gesundheitssystems abzugleichen und pragmatisch mit Versuch und Irrtum bei der Eindämmung voranzugehen.

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