11.03.2022 - Kommentare

China und Putins Krieg in der Ukraine

von Norbert F. Tofall


I.

Gemessen an geopolitischen Kategorien dürfte China aus der Corona-Krise als Sieger hervorgegangen sein. Inwieweit China jedoch auch von Putins Krieg in der Ukraine ökonomisch und geopolitisch profitieren kann, ist derzeit offen. Chinas Regierung agiert entsprechend verhalten.

Bis zum 24. Februar 2022 sind sowohl die russische als auch die chinesische Regierung davon ausgegangen, daß der Westen zutiefst gespalten, dekadent und zu gemeinsamem Handeln weitgehend unfähig ist. Und Putin dürfte bei seinen Kriegsplanungen gegen die Ukraine maßgeblich auf diesen Faktor gesetzt haben. Wäre dieses Kalkül aufgegangen, dann hätte China eindeutig geopolitisch von Putins Krieg in der Ukraine profitiert. Man könnte sogar sagen, daß Putin dann letztendlich für die geopolitischen Ziele Chinas Krieg führen würde. Durch die geschlossene Reaktion des Westens ist dieses Kalkül jedoch widerlegt worden.

Dazu kommt, daß im Moment unklar ist, inwieweit die chinesische Führung in Putins Kriegspläne eingeweiht war. Daß Xi von Putin im Vorfeld der Olympischen Winterspiele etwas erfahren haben dürfte, liegt auf der Hand. Aber was genau hat Putin Xi mitgeteilt? Und hätte Xi, wenn ihm klar gewesen wäre, wie geschlossen der Westen auf Putins Invasion in die Ukraine reagiert und wie langsam die russische Armee in der Ukraine vorankommt und welchen Vernichtungskrieg Putin gegen Zivilisten und zivile Infrastruktur führt, versucht, Putin von seiner Invasion abzuhalten? Die Ukraine ist Teil der chinesischen One-Belt-One-Road-Strategie, die jetzt eindeutig beschädigt ist. Oder erhofft sich China, falls Putin die gesamte Ukraine unter Kontrolle bekommen sollte, lukrative Wiederaufbauprojekte in der Ukraine zum Ausbau der One-Belt-One-Road-Strategie, was einigermaßen kühn wäre. Falls Putin die gesamte Ukraine unter seine Kontrolle bekommen sollte, wonach es im Moment nicht aussieht, dann darf aus chinesischer Sicht an den Grenzen der durch Putin okkupierten Ukraine nicht ein neuer Eiserner Vorhang entstehen, damit die One-Belt-One-Road-Strategie in diesem Teil Europas ihre Wirkung entfalten kann. Ein derartiger neuer Eiserner Vorhang wäre aber sehr wahrscheinlich, woran China sicherlich kein Interesse haben dürfte.

Auch dürfte die wiederauferstandene transatlantische Allianz – wenn sie mittelfristig Bestand hat – Chinas Hegemonialstreben begrenzen. Zum einen könnte in internationalen Organisationen wie der WTO ein neuer Wind wehen. Zum anderen könnten die ständigen Versuche, westliche Staaten über die One-Belt-One-Road-Strategie gegeneinander auszuspielen, an Grenzen geraten. Darüber hinaus könnten sich die Kräfteverhältnisse im Indopazifik, im Südchinesischen Meer und bezüglich Taiwan verändern. In diesem Teil der Welt hat zudem Indien Interessen, die denen Chinas entgegengesetzt sind.

In einer Hinsicht wird China aber auf jeden Fall von Putins Krieg in der Ukraine profitieren. Unabhängig davon, ob Putin seinen Krieg in der Ukraine gewinnt oder verliert, Russland befindet sich ab jetzt in der Rolle des Juniorpartners von China, eine Rolle, die Russland immer vermeiden wollte.

II.

Russland befindet sich seit Jahren in einem selbsterzeugten Dilemma.1 Russlands größtes ökonomisches und politisches Entwicklungshemmnis besteht außenpolitisch in seinem imperialen Streben nach Hegemonie und innenpolitisch in seiner zwanghaften Kontrolle und Beherrschung aller gesellschaftlichen Bereiche einschließlich der Wirtschaft. Entgegen der eigenen Intentionen hat sich Russland dadurch selbst in eine geopolitische Lage manövriert, in der vorerst nur noch China als gewichtiger Kooperationspartner zur Verfügung steht. In einer Partnerschaft mit China ist Russland jedoch – worauf Erich Weede schon vor Jahren zurecht hinwiesen hat –  nicht Hegemonialmacht, sondern nur Juniorpartner.2 Innen- und wirtschaftspolitisch hat Russlands Kontroll- und Beherrschungswahn aller gesellschaftlichen Bereiche dazu geführt, dass Russland seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und des realexistierenden Sozialismus 1991 seine ökonomischen Strukturprobleme immer noch nicht gelöst hat, während andere Staaten der ehemaligen Sowjetunion und des Ostblocks wie beispielsweise Litauen, Lettland, Estland, Polen und Tschechien in einem schmerzhaften Transformationsprozess der schöpferischen Zerstörung ganz erhebliche Leistungen vorzuweisen haben.

Und Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik gehören in Russland zusammen; denn Russland hat die eigene Energiewirtschaft und den Export von Öl und Gas zur zentralen geopolitischen und vom Kreml zentralgesteuerten Waffe geformt und dadurch sowohl die freie wirtschaftliche und auf Wettbewerb beruhende Entwicklung des eigenen Landes als auch die friedliche außenwirtschaftliche Kooperation mit seinen Nachbarn verhindert.

Um die Tragweite dieses Dilemmas abschätzen zu können, muss immer wieder daran erinnert werden, dass 1991 nicht die Marktwirtschaft in der Sowjetunion eingeführt wurde. 1991 ist auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion der Sozialismus zusammengebrochen. Marktwirtschaft kann man nicht einführen. Marktwirtschaft ist ein Oberbegriff für die dezentrale direkte und indirekte Kooperation von Millionen und unter Globalisierungsbedingungen von Milliarden von Menschen. Diese Kooperation kann nicht von oben eingeführt werden. Die Entwicklung dieser dezentralen direkten und indirekten Kooperation von Individuen kann bestenfalls von oben zugelassen und nicht behindert werden. Mancur Olson, der die Evolution von Ökonomien sowjetischen Typs analysiert hat, identifiziert darüber hinaus die Bedingungen, die für ökonomischen Erfolg notwendig sind: „einerseits sichere und wohl definierte Rechte für alle auf privates Eigentum und unparteiische Durchsetzung von Verträgen, sowie andererseits die Abwesenheit von Raub.“3

Leider werden im heutigen Russland durch das System Putin alle diese Bedingungen verletzt, wofür der Fall Yukos und Chodorkowski exemplarisch stehen.

Die Gründung einer Eurasischen Union ist deshalb der Versuch der russischen Führung, dem selbsterzeugten Dilemma zu entgehen. Weder will man freiheitliche und Wohlstand für alle ermöglichende Institutionen einführen, man bezeichnet diese sogar als westliche Dekadenz, noch will man der Juniorpartner Chinas sein. Russland will als Hegemonialmacht zusammen mit seinen Satelliten in einer Eurasischen Union eine Weltmacht vom Range Chinas und der USA sein und sich vor allem nicht an die Regeln halten, die als Rule of Law und Limited Government sowie Safe Property Rights die Bedingung für wirtschaftlichen Wohlstand bilden. Durch staatlich gelenkten und zentral geplanten Handel unter Einbindung von dem Kreml dienlichen und gehorsamen Oligarchen innerhalb der Eurasischen Union und den staatlich und zentral geplanten Handel mit Öl und Gas der gesamten Eurasischen Union soll Wohlstand auf merkantilistische und globalplanerische Art und Weise erwirtschaftet werden.

Putins Invasion in die Ukraine ist der verzweifelte Versuch, die von ihm schon lange angestrebte Eurasische Union mit Blut und Gewalt zu schmieden. China hat jedoch an einer Eurasischen Union nicht das geringste Interesse. Und durch die geschlossene Haltung des Westens dürften Putins Träume ohnehin gescheitert sein. China dürfte sich deshalb im derzeitigen Ukraine-Konflikt so verhalten, daß Russland letztendlich zu Chinas Juniorpartner wird. Dieser Juniorpartner soll aus Sicht von China aber nicht so geschwächt werden, daß China ökonomisch und politisch keinen Nutzen mehr aus Russland ziehen kann.


1 Vgl. zu den folgenden Absätzen Norbert F. Tofall: Ziele und Wirksamkeit von Wirtschaftssanktionen. Eine Betrachtung hinsichtlich des Russland-Ukraine-Konflikts, Studie des Flossbach von Storch Research Institute vom 2. Februar 2015, S. 12; online unter: www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/ziele-und-wirksamkeit-von-wirtschaftssanktionen/

2 Hierzu siehe Erich Weede: „Geopolitics, Prosperity and International Conflict: Russia between China and the West“, unveröffentlichtes Manuskript Stand November 2014, das im April 2015 in Groningen auf der European Public Choice Conference zur Diskussion gestellt wird. Besonders interessant auf S. 5: „Putin’s annexation of the Crimea does not make Russia a plausible candidate for global leadership… In order to become one of the main players in geopolitics, one needs a big first-class economy rather than the mediocre one which Russia has.“ Siehe auch S. 24: “The recent annexation of the Crimea provides no solution to Russia’s strategic predicament. Even if Russia succeeded in taking over all of the Ukraine and White Russia and in pacifying these conquests within a short period of time, the most likely effect would be a revival and fortification of the North Atlantic alliance. Western economic sanctions could drive Russia into China’s embrace. But the Chinese economy would remain both much bigger and more dynamic than the Russian one.”

3 Einleitung von Charles Cadwell in Mancur Olson: Macht und Wohlstand. Kommunistischen und kapitalistischen Diktaturen entwach­sen, übersetzt von Gerd Fleischmann, Tübingen (Mohr) 2002, S. 2.

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