04.08.2022 - Kommentare
Als Begleitmaßnahme zu ihrer ersten Zinserhöhung nach elf Jahren hat die Europäische Zentralbank ihrer Buchstabensuppe geldpolitischer Instrumente ein weiteres Element hinzugefügt: „TPI“. Das sogenannte „Transmission Protection Instrument“ hat eine gewisse Ähnlichkeit mit der Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung bei Verbrennungsmotoren. Dort wird die Reinigung automatisch bei bestimmten Lufttemperaturen außer Kraft gesetzt. Beim TPI werden die Marktkräfte von der EZB durch Intervention abgeschaltet, wenn die Zinsdifferenz hoch verschuldeter Euroländer zu Bundesanleihen eine geheime Grenze überschreitet. Die Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung hat technisch einwandfrei funktioniert und erst Anstoß erregt, als sie entdeckt wurde. Beim TPI bin ich mir da nicht so sicher.
TPI hat einen Vorgänger
Der Grund dafür ist, dass mich dieses Instrument an eine andere Vorrichtung erinnert, die kläglich versagt hat: den Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems. Im sogenannten ERM wurden die Wechselkurse strukturell verschiedener EU-Länder aneinander gekettet, was zu wiederkehrenden Krisen führte. Immer wieder verkauften Spekulanten aus ihrer Sicht überwertete Währungen auf Termin gegen die D-Mark. Und immer wieder versuchten die betroffenen Zentralbanken, ihre unter Druck stehenden Währungen mit zum Teil extremen Zinserhöhungen zu verteidigen. Da die hohen Zinsen Gift für die Wirtschaft waren, konnten sie das nicht lange durchhalten und die Spekulanten gewannen. Am 16. September 1992, dem „schwarzen Mittwoch“, flog das britische Pfund aus dem Wechselkursverbund, einen Tag später folgte die italienische Lira. Nach weiteren Schlachten wurde der ERM am 1. August 1993 faktisch außer Kraft gesetzt.
Im Unterschied zum ERM sind die von der EZB festgelegten Interventionsgrenzen des TPI am Anleihemarkt unbekannt. Klar ist aber, dass die „Spreads“ (Zinsabstände zu Bundesanleihen) nicht zu groß werden dürfen. Seit 2018 scheint die EZB zum Beispiel den italienischen „Spread“ unter drei Prozent halten zu wollen (siehe Grafik). Spekulanten könnten also damit rechnen, dass ein Verkauf italienischer Anleihen gegen Bundesanleihen auf Termin auf Jahresbasis nicht mehr als drei Prozent kostet. Das sind „Peanuts“ im Vergleich zu den Strafzinsen im ERM, die zum Beispiel bei der Verteidigung der schwedischen Krone zeitweise auf 500 Prozent gesetzt wurden. Heutzutage erscheint es also recht billig, auf einen „Italexit“ zu wetten, wenn die italienische Politik nach den Wahlen am 25. September im Chaos versinken sollte.
Bedingungen für das TPI sind nur vorgeschoben
Die Aktivierung des TPI ist an bestimmte Bedingungen geknüpft. Das erinnert an das Programm der „Outright Monetary Transactions“ (OMT), das als Finanzierungshilfe aktiviert werden kann, wenn ein Land ein Anpassungsprogramm mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) abgeschlossen hat. Eine EMS/OMT-Finanzierung ist möglich, wenn sich ein Land verpflichtet, seine Wirtschaftspolitik zur Beseitigung fiskalischer Ungleichgewichte und struktureller Verzerrungen zu korrigieren. Dagegen könnte TPI eigentlich nur aktiviert werden, wenn es keine Ungleichgewichte und Verwerfungen gibt. Ist dem aber so, wäre es sehr verwunderlich, wenn der Markt den „Spread“ ausweiten würde.
Eine Aktivierung des TPI zur „Spread“-Begrenzung wäre streng genommen also nur möglich, wenn sich die Marktteilnehmer völlig irrational verhalten würden. Viel wahrscheinlicher ist aber, dass die Marktteilnehmer Anleihen aus guten Gründen verkaufen. Dann kann die EZB das TPI nur aktivieren, wenn sie die dafür eigens aufgestellten Bedingungen missachtet. Angesichts der gezeigten „Flexibilität“ bei der Auslegung ihres Mandats, darf man davon ausgehen, dass die EZB davor nicht zurückschrecken wird, wenn dies politisch opportun ist.
Die Bruchstelle des TPI
Wie der ERM dürfte auch das TPI an seine Grenzen kommen, wenn die Flucht aus Risikoanleihen massiv wird. So könnten zum Beispiel anfänglich spekulative Terminverkäufe italienischer Staatsanleihen eine Panik unter den Haltern dieser Anleihen auslösen. Wenn sie die Verkaufserlöse nach Deutschland schaffen, explodieren die Salden des Interbankzahlungssystems Target2. Schon heute steht Italien in diesem System mit rund 600 Milliarden Euro in der Kreide, während Deutschland Forderungen in Höhe von 1,2 Billionen Euro hat (siehe Grafik). Von den rund 2,8 Billionen italienischen Staatsschulden liegen rund 740 Milliarden auf den Bilanzen der Banca d’Italia und EZB. Müsste die Banca d’Italia nochmal so viel aufkaufen, könnten die Targetverbindlichkeiten Italiens weit über die Billionenschwelle steigen und die Forderungen Deutschlands zwei Billionen überschreiten.
Ein Rezept für Stagflation
Solange die Inflation am Boden lag, konnte die EZB die monetäre Staatsfinanzierung als „außergewöhnliche Geldpolitik“ tarnen. Im gegenwärtigen Inflationstsunami ist das nicht mehr möglich. Für jeden im TPI für ein überschuldetes Euroland neu geschaffenen Euro müsste sie nun anderen Kreditnehmern mindestens einen Euro entziehen. Dadurch würde sich nicht nur die Qualität der konsolidierten Bilanz des Eurobankensystems verschlechtern, sondern auch das Wirtschaftswachstum würde abnehmen, da Kredite für produktive Investitionen rarer würden. Schlussendlich hilft das TPI allein nicht einmal den überschuldeten Euroländern. Denn für ihre Finanzierungskosten sind nicht die „Spreads“ über den deutschen Zinsen, sondern die absolute Höhe der Zinsen maßgeblich. Folglich wird die EZB alle Zinsen weiterhin niedrig halten wollen, auch wenn dadurch die Inflation außer Kontrolle gerät.
Die Ampel wird kneifen
In der ERM-Krise zogen die Regierungen der unter Abwärtsdruck stehenden Währungen schließlich die Reißleine, weil für sie die Verteidigung der Wechselkurse durch hohe Zinsen zu teuer wurde. In einer TPI-Krise würde dagegen Deutschland in weitere Target-Kredite ohne jede Begrenzung gezwungen und der Euroraum mit noch mehr Geld geflutet. Der Euro würde auf den Devisenmärkten weiter abwerten und die Inflation hoch bleiben. Es wäre dann an der deutschen Regierung, die Reißleine zu ziehen. Doch das würde sich die Berliner Ampel kaum trauen.
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