24.02.2021 - Studien

Gesellschaftlicher Wohlstand in Gefahr

von Marius Kleinheyer


Gesellschaftlicher Wohlstand entsteht nicht schicksalhaft oder zufällig, sondern ist abhängig von Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze.

Der Erfolg einer Volkswirtschaft ist gekennzeichnet durch Wachstum und Innovation. Ein hoher Lebensstandard für sehr viele Menschen und die Möglichkeit zu außergewöhnlichem Wohlstand für grundsätzlich jeden sind die sichtbaren Zeichen eines erfolgreichen Wirtschaftssystems. Ein relativ kleiner Teil der Welt, „der Westen“, hat, trotz gravierender Rückschläge, seit Anfang des 19. Jahrhunderts eine außergewöhnliche Erfolgsgeschichte hingelegt. Mit dem Auftreten des Bürgertums entwickelten sich demokratische und marktwirtschaftliche Institutionen. Gesellschaftlicher Reichtum ist dadurch heute so selbstverständlich geworden, dass er Gefahr läuft, als voraussetzungslos angenommen zu werden.

Der Blick in die Geschichte zeigt aber auch: „Nichts ist so beständig wie der Wandel“. In Zeiten von Pandemie, ökonomischen und politischen Krisensymptomen in den USA und Europa und dem Aufstieg Chinas ist man schnell geneigt, der Weisheit des griechischen Philosophen Heraklit zuzustimmen. Eine Garantie für Frieden und Wohlstand gibt es nicht. Stabilität war historisch immer nur temporär möglich.

So wechselhaft die Geschichte auch gewesen sein mag, breiter gesellschaftlicher Wohlstand entsteht oder zerfällt nicht zufällig oder schicksalshaft, sondern ist abhängig von Bedingungen und Gesetzmäßigkeiten. Geschichte ist mehr als „just one damned thing after another“, wie der Historiker Arnold J. Toynbee kritisch bemerkte.1

Die Fragen, ob und warum eine Gesellschaft arm oder reich wird, sind Kernfragen in den Sozialwissenschaften. Eine zielführende Antwort muss Erkenntnisse der ökonomischen Theorie, der Politikwissenschaften und der Soziologie beinhalten.  In diesem Paper werden verschiedene wissenschaftliche Ansätze präsentiert. Die Zusammenschau gibt zu denken. Die unterschiedlichen Ansätze lassen allesamt vermuten, dass in Europa der hohe Lebensstandard gefährdet ist. Nicht heute oder morgen, dafür ist das Fundament zu stabil, aber langfristig. Es reicht nicht, von der Substanz zu leben. Wohlstand muss immer wieder erarbeitet werden. Das beginnt mit der Einstellung und Akzeptanz von Unternehmertum und marktwirtschaftlichen Prozessen in der Gesellschaft. Welche Chancen haben wir?

Der große Einfluss des Historizismus bis heute

Heraklit und noch mehr der von ihm beeinflusste griechische Philosoph Platon haben das Nachdenken über gesellschaftliche Prozesse maßgeblich geprägt. Die Denkmuster, die von ihnen etabliert wurden, sind bis heute wirkmächtig. Mit Heraklit setzte sich die Überzeugung durch, sowohl die Natur als auch die Gesellschaft in Prozessen und nicht statisch zu denken. Sowohl Heraklit als auch Platon lebten in Zeiten politischer Umbrüche und sozialer Revolutionen. Beiden waren persönlich und mittelbar von den gesellschaftlichen Umbrüchen betroffen. Mit der Veränderung war eng ein Schicksalsmythos verbunden. An dieser Stelle zeigte sich sehr früh in der Geschichte des Denkens ein prägendes Merkmal des Historizismus: „Eine übermäßige Betonung der Veränderung, der Wandelbarkeit aller Dinge, verbunden mit dem Glauben an ein unerbittliches und unabänderliches Schicksalsgesetz.“2 Die Einflussmöglichkeit eines Individuums auf dieses Schicksal ist bedeutungslos.

Bei Platon ist der Ausgangspunkt ein goldenes Zeitalter. Veränderung bedeutet bei ihm Verfall. Das Gesetz des historischen Verfalls geht einher mit einem sittlichen Verfall. Dagegen setzt Platon, im Gegensatz zu Heraklit die Möglichkeit eines idealen, autoritären Staates, der Veränderungen aufhält.3

Der britische Philosoph Karl Popper kritisiert den Historizismus in seinem bedeutenden Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“4 In der Vorstellung gesetzmäßige Abläufe der Geschichte aufzudecken und so die Zukunft vorherzusagen, liegt für ihn das „Elend des Historizismus“. Das Individuum und sein freier Wille tritt zurück hinter die Vorherbestimmtheit der Geschichte. Dagegen setzt Popper sein Konzept der offenen Gesellschaft, die den Lauf der eigenen Geschichte selbst in der Hand hat.

Popper konstatiert, dass historizistische Ideen besonders in Zeiten großer sozialer Veränderungen in den Vordergrund treten.5 In der Tat gibt es auch heute einen beachtenswerten Ansatz, der an diese Denktradition anknüpft.

Der russisch-amerikanische Wissenschaftler Peter Turchin forscht nach Treibern von dynamischen gesellschaftlichen Prozessen. Indem er geschichtliche Narrative in mathematische Modelle übersetzt, hofft er, aus der Dynamik geschichtlicher Entwicklungen qualitative Vorhersagen über den weiteren Verlauf treffen zu können. Diesem Ansatz hat Turchin einen eigenen Namen gegeben: Kliodynamik (engl: Cliodynamics). Klio ist in der griechischen Mythologie die Muse für Heldendichtung und Geschichtsschreibung. Er fasst den Ansatz in seinem Buch „Ages of Discord“ zusammen.6

Der grundsätzliche Modellrahmen besteht aus einem säkulären Zyklus politischer Instabilität, den staatlichen Gesellschaften in der Geschichte durchlaufen.  Dieser Zyklus wird wesentlich durch die Demographie angetrieben. Zunächst stellt er das Modell für agrarische Gesellschaften auf, überträgt es aber auch auf die Zeit nach der industriellen Revolution.

In prosperierenden, expansiven Zeiten herrschen Frieden und relativer Wohlstand. Die Anzahl der Eliten ist gering, ihr Konsum maßvoll und ihre Einstellung auf das Allgemeinwohl ausgerichtet.  In der Folge kommt es zu einem Bevölkerungswachstum. Daraus entsteht ein Absinken der realen Löhne und eine Verringerung des Lebensstandrads für weite Teile der Bevölkerung. Gleichzeitig profitieren Eliten von dieser Entwicklung und können ihren Lebensstandard heben. Ihre Orientierung hin zum Allgemeinwohl lässt nach. Der vergrößerte Unterschied im Konsumverhalten der Elite führt dazu, dass es immer mehr Elite-Aspiranten gibt.  Gleichzeitig nimmt die Anzahl der Eliten zu. Bestehende Eliten verteidigen durch auffälligen Konsum ihren Status in der Gesellschaft. Es kommt zu einer Elite-Überproduktion, wenn die Elite nicht mehr durch die Gesellschaft getragen werden kann. Die Folge sind intraelitäre Konflikte und Ausgrenzungen sowie die Ausweitung von Staat und Verwaltung, aus der eine Fiskalkrise erwächst. Aus dieser Gesamtsituation heraus entwickelt sich eine tiefgreifende sozio-politische Instabilität.

Am Beispiel der jüngeren amerikanischen Geschichte demonstriert Turchin seinen Ansatz. Der aktuelle säkuläre Zyklus erstreckt sich in seiner Analyse von 1930 in die Gegenwart. Bis in die 1970er Jahre sind die Einkommen der amerikanischen Arbeitnehmer schneller angestiegen als die Inflation. Diese Entwicklung bricht in den 1980er Jahren ab. Zwischen 1977 und 2012 wuchs die Bevölkerung stärker als die Nachfrage nach Arbeitskräften.7 Faktoren für diesen Trend waren die Immigration, die größere Zahl von Frauen auf dem Arbeitsmarkt und eine geringe Abhängigenquote.8 Auf der anderen Seite veränderte sich im Zuge der einsetzenden Globalisierung die US-amerikanische Handelsbilanz in den 1970er Jahren grundlegend. Die USA wurden von einer Exportnation zu einer Importnation mit einer durchweg negativen Handelsbilanz.

Gleichzeitig veränderte sich das politische Klima in dieser Zeit. Mit den 1980ern beginnt die Anzahl der Eliten mit zunehmender Geschwindigkeit zu wachsen.9 Turchin erhielt in den USA jüngst größere Aufmerksamkeit, da er politische Unruhen für das Jahr 2020 prognostizierte.

Nach dieser Auffassung ist der Weg in die politische Instabilität und das Absinken des Lebensstandards für breite Bevölkerungsschichten vorgezeichnet. Ein Trend, der sich so ohne Weiteres nicht aufhalten lässt und der in den kommenden Jahrzehnten größere Konflikte prognostiziert. Der Sturm auf das Kapitol in Washington kann als ein eindeutiges Warnzeichen für eine solche Entwicklung interpretiert werden. Nach diesem Ansatz müssen die Dinge noch sehr viel schlechter werden, bevor ein Aufschwung in einer neuen zyklischen Bewegung möglich ist.

Die Neue Institutionenökonomie als alternativer Ansatz

Der Neue institutionenökonomische Ansatz geht ursprünglich auf Ronald Coase und seinen Aufsatz „The Nature of the Firm“ von 1937 zurück.10  Darin beschreibt er prägnant die zentrale Bedeutung von Transaktionskosten in der Ökonomie. Institutionenökonomen sehen Institutionen als formale oder informelle Regeln an, die menschliches Handeln leiten und Anreize geben. Durch funktionierende Institutionen werden Transaktionskosten ganz abgebaut beziehungsweise gesenkt.  Douglass North definiert Institutionen als „humanly devised constraints that structure political economic and social interaction.”11

Vertreter wie Douglas North oder Daron Acemoglu interpretieren die Erfolgsgeschichte „des Westens“ als allmähliches Absinken dieser Transaktionskosten im Zuge der Etablierung von Eigentumsrechten und politischen Institutionen, die diese respektieren. Der Verlauf der Geschichte wird als grundsätzlich offen und kontingent angenommen. Bei Institutionenökonomen ist der Ausgang politischer Konflikte für die Entwicklung eines Landes maßgeblich. Im Gegensatz zu den Ansichten von Turchin sind diese Konflikte grundsätzlich ergebnisoffen.  In der Folge entscheiden sie aber über den Zustand politischer und ökonomischer Institutionen. Unterschiedliche Ausprägungen von Frieden und Wohlstand zwischen Ländern sind abhängig von den unterschiedlichen Institutionen, die die politischen und ökonomischen Verhältnisse regeln. Statt eines Gesetzes der Geschichte wie im Historizismus angelegt, gibt es Pfadabhängigkeiten. Es liegt an der Qualität des institutionellen Arrangements, ob das nutzenmaximierende Individuum produktiven oder destruktiven Beschäftigungen nachgeht.

In seinem Buch „Why Nations Fail“12 unterscheidet Acemoglu zwischen integrativen und extraktiven politischen und ökonomischen Institutionen. Integrative Institutionen ermöglichen in einem Rechtsstaat die Durchsetzung von Eigentumsrechten, ein faires Wettbewerbsumfeld und begünstigen Investitionen in neue Technologien und Fähigkeiten. Ökonomische Gewinnmöglichkeiten sind nicht nur einer kleinen Elite vorbehalten, sondern für breite Bevölkerungsschichten vorhanden.

Extraktive Institutionen sind darauf ausgelegt, die Ausbeutung von Einkommen und Vermögen von einer Gruppe in der Gesellschaft durch eine andere Gruppe zu ermöglichen. Allgemeine Eigentumsrechte werden dabei nicht respektiert.

Wesentlich für das Funktionieren integrativer ökonomischer Institutionen ist das Funktionieren integrativer politischer Institutionen. Sie ermöglichen die Aufstellung und Aufrechterhaltung der Ordnung. Statt unter der Kontrolle einer kleinen abgeschlossenen Elite ist die politische Macht in einer pluralistischen Gesellschaft breiter verteilt.

Länder scheitern, wenn extraktive politische Institutionen zu extraktiven ökonomischen Institutionen führen und dadurch ökonomisches Wachstum blockiert oder ganz verhindert wird.13 Obwohl politische und ökonomische Institutionen die notwendige Bedingung für nachhaltiges Wachstum und damit der Steigerung des Lebensstandards sind, gibt es auch heute mehrheitlich Staaten auf der Welt, in denen extraktive Institutionen bestehen. Herrschende Eliten haben kein automatisches Interesse an einem wohlhabenden Land mit integrativen ökonomischen und politischen Institutionen, wenn ihre eigenen Einkommen und Vermögensbestände bedroht sind.

In Anbetracht zum Beispiel des ökonomischen Aufstiegs Chinas wird die Notwendigkeit integrativer politischer Institutionen in Frage gestellt. Diese Zweifel sind nicht neu, sie kamen bereits in Zeiten des Kalten Krieges im Systemwettbewerb mit der Sowjetunion auf.

Damals ist man zu dem Schluss gekommen, dass Wachstum in begrenztem Ausmaß auch unter extraktiven politischen Institutionen möglich ist. Ressourcen können unter der politischen Kontrolle in produktive Verwendungen allokiert werden. Selbst die Sowjetunion hat in der Zeit zwischen 1950 und 1970 beachtliches Wirtschaftswachstum erzielt. Auch damals haben viele westliche Ökonomen, die in ihrer Analyse dem Zustand der Institution zu wenig Beachtung geschenkt haben, einen nachhaltigen Wachstumspfad prognostiziert, der das Pro-Kopf Einkommen der Sowjetunion sogar über den der USA sah. Eines der meistgenutzten Lehrbücher in der Volkswirtschaftslehre von Paul Samuelson sagte 1961 voraus, dass die Sowjetunion die USA frühestens 1984, sicherlich aber um 1997 überholt haben würde. In der Auflage 1980 hieß es frühestens 2002, sicherlich aber 2012.14 Die Lehre aus dieser allzu statischen, technischen volkswirtschaftlichen Analyse hätte sein können, dass extraktive politische Institutionen kein dauerhaftes Wachstum erzeugen können, da die Anpassungsfähigkeit an den technischen Wandel fehlt und durch den Widerstand von Eliten unterdrückt wird. Das bedeutet nicht, dass die Sowjetunion nicht punktuell technisch glänzen konnte. Immerhin schoss man mit Leika den ersten Hund und mit Yuri Gagarin den ersten Menschen ins All.

Wachstum ist grundsätzlich auch möglich, wenn ein Land unter extraktiven politischen Institutionen integrative ökonomische Institutionen zulässt. So hat der wirtschaftliche Aufstieg Südkoreas in den 1960er Jahren begonnen, bevor 1980 auch die politischen Institutionen geöffnet wurden.

Auch Chinas Wachstum ist ein Beispiel für ökonomisches Wachstum unter extraktiven Institutionen. Es basiert grundsätzlich auf der Adaption vorhandener Technologie und nicht kreativer Zerstörung. Die Vorhersage der Institutionenökonomen lautet typischerweise, dass China nur dann dauerhaftes Wachstum erzielen kann, wenn es auch integrative politische Institutionen einführt. Nach dieser Interpretation ist der Erfolg Chinas nicht wegen der Staatsautorität, sondern aufgrund der graduellen Lockerung extraktiver Institutionen zu erklären.

Nach dem Untergang der Sowjetunion und dem Fall des Eisernen Vorhangs gab es die Hoffnung und Erwartung auf eine weltweite Entwicklung hin zu integrativen politischen und ökonomischen Institutionen. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama prägte Anfang der 1990er Jahre das Narrativ vom „Ende der Geschichte“.15 Seiner Meinung nach hätte sich die liberale Demokratie gegen andere Systeme durchgesetzt und damit Geschichte einen Endzustand erreicht. Fukuyama setzte sich bewusst in die Denktradition von Hegels und Marx. Sein scheinbarer analytischer Triumph lag in der Tatsache begründet, dass er den Sieg der liberalen Demokratie aus den Denkmustern ihrer Feinde ableitete.

Historizismus funktioniert aber auch nicht in die entgegengesetzte Richtung. Geschichte kennt keine Finalität im Guten oder Schlechten. Die These vom Ende der Geschichte gilt mit dem Anschlag vom 11. September auf das World Trade Center als widerlegt. Finanzkrise und Pandemie verdeutlichen, dass die liberale Demokratie nicht nur von außen angreifbar ist, sondern die Institutionen auch durch Krisenbewältigungsmaßnahmen beschädigt werden können.

Für den Westen müssten Institutionenökonomen heute konsequenterweise eine neue Frage stellen. Können unter integrativen politischen Institutionen auch extraktive ökonomische Institutionen entstehen?

Die soziologische Voraussetzung für den Kapitalismus

Der institutionenökonomische Ansatz lässt sich aus der Perspektive kritisieren, dass er durch seine abstrakte Art, der Besonderheit des Reichtums einer Gesellschaft nicht gerecht werden kann. Die amerikanische Ökonomin Deirdre McCloskey kommt zu dem Schluss, dass jede Form von routinierter Erklärung dem Phänomen gesellschaftlichen Reichtums nicht gerecht werden kann. Eigentumsrechte gab es bereits vor der Glorious Revolution in England von 1699. Der institutionenökonomische Ansatz unterstellt aus ihrer Sicht eine falsche Zwangsläufigkeit von integrativen Institutionen hin zu gesellschaftlichem Reichtum. In einer Gesellschaft muss mehr passieren, als dass das nutzenmaximierende Individuum (Max U.) auf das „richtige Gleis“ gesetzt wird.

In ihrer umfassenden Trilogie „The Bourgeois Virtues“, „Bourgeois Dignity“, Bourgeois Equality”16 arbeitet Mc Closkey die Besonderheit ökonomischen Wachstums und Innovationskraft heraus. Sie kommt zu dem Schluss, dass es an dem kulturellen Wandel liegt, durch den Unternehmertum als würdige Beschäftigung anerkannt wurde und so grundsätzliche Freiheit für diese Tätigkeit gesellschaftliche Akzeptanz fand. Notwendig für Wachstum und Innovation ist daher ein bürgerlicher Geist, der Handelsaktivitäten (zu günstigen Preisen kaufen und zu höheren Preisen verkaufen) als wesentlichen Teil seiner Kultur akzeptierte und die Tugendhaftigkeit von Marktwirtschaft verstand.

Im ersten Band „The Bourgeois Virtues“ wird der ethische Gehalt des bürgerlichen Lebens herausgearbeitet. Der zweite und dritte Band unterstreicht die soziologischen Grundlagen des Wachstums in der Industriellen Revolution und der Entwicklung der modernen Welt.

Bedingung für gesellschaftlichen Reichtum ist ein prounternehmerischer Zeitgeist. Oder, wie es der Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr ausdrückte: “Economic change in all periods depends, more than most economists think, on what people believe”17 Die Wirtschaft wächst, wenn in einer Gesellschaft positiv über Märkte und Unternehmen und deren Erfindungen gedacht und gesprochen wird.

Durch die industrielle Revolution und die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft konnte der „Malthusianische Fluch“ des Bevölkerungswachstums gelöst werden. Der britische Ökonom und Sozialphilosoph Thomas Malthus ging davon aus, dass die Ressourcen langsamer wachsen als die Bevölkerung und sich die Menschen so in die Verelendung vermehren. Turchins Theorie trägt „malthusianische“ Elemente in sich.

Nicht nur die Bevölkerungszahl ist seit der industriellen Revolution massiv angestiegen, der durchschnittliche Bürger Westeuropas und Nordamerikas genießt ein Vielfaches des Lebensstandards von 1800.

Die soziologische Erklärung für die Entstehung gesellschaftlichen Reichtums ist bei Ökonomen anschlussfähig. Nobelpreisträger und Wachstumsökonom Robert Lucas stellte fest, dass „for income growth to occur in a society a large fraction of people must experience changes in the possible lives they imagine for themselves and their children. (…) In other words, economic development requires “a million mutinies””.18

Ökonomisches Wachstum baut auf der Würde und der Freiheit des Unternehmertums auf, die ihm in einer Gesellschaft zugesprochen wird. Die Würde ist der soziologische Grund, die Freiheit der ökonomische Grund für unternehmerisches Wachstum durch Innovation. Fehlt die Würde, wird das

Unternehmertum angegriffen, nicht nur durch schlechte Wirtschaftspolitik, sondern auch durch die Gesellschaft, beispielsweise auch in Kunst und Literatur.

Umgekehrt hat anti-bürgerliche Rhetorik im 20. Jahrhundert zu Katastrophen unglaublichen Ausmaßes geführt. Diese Gefahr besteht auch im 21, Jahrhundert. So wie die bürgerliche Ethik den außerordentlichen Wohlstand erzeugt hat, ebnet die Negation oder Verächtlichmachung den Weg in seine Zerstörung.

Fazit

Könnten wir die Finalität der Geschichte erkennen, würden wir uns wohl auf geradem Weg dorthin begeben. Wäre die Geschichte dagegen ein Zufallsprozess – oder „Random Walk“ – könnten wir aus ihr nichts lernen. Liegt die Wahrheit jedoch in der Mitte, verändert uns die Geschichte und wir verändern sie. Nicht der Random Walk, sondern der Error-Correction-Process wäre dann das entsprechende der Statistik entstammende Bild. Durch „Error“ und „Correction“ kann eine im Nachhinein in Umrissen beobachtbare, aber schwer in die Zukunft prognostizierbare Zyklik entstehen. Doch ein Muster ist erkennbar: Fehlerhafte Entwicklungen setzen ein, wenn die individuelle Freiheit durch Verpflichtungen auf von wenigen definierte gemeinsame Ziele unterdrückt wird. Korrekturen entwickeln sich, wenn diese Verpflichtungen aufgehoben werden und dem Bürgertum Würde und Freiheit zugesprochen wird. Gegenwärtig haben Freiheitsbeschränkungen Konjunktur. Wie weit die fehlerhafte Entwicklung gehen wird, ist offen. Zuversichtlich stimmt jedoch, dass wir auf die Korrektur hoffen dürfen und selbst dafür etwas tun können.


1 Toynbee, Arnold J. (1957), A Study of History, Abridgement of Volumes VII-X by D. C. Somervell, S. 267, Oxford University Press, New York.

2 Popper, Karl (2003) Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen: Mohr Siebeck, S.19.

3 Platon (2000) Der Staat, Stuttgart: Reclam Verlag.

4 Popper, Karl (2003) Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen: Mohr Siebeck.

5 Popper, Karl (2003) Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen: Mohr Siebeck, S. 23.

6 Turchin, Peter (2016) Ages of Discord, Chaplin, CT.: Beresta Books.

7 Turchin, Peter (2016) Ages of Discord, Chaplin, CT.: Beresta Books.

8 Das Verhältnis der arbeitenden Bevölkerung zur nicht-arbeitenden Bevölkerung (Kinder, Rentner) wird in dieser Quote dargestellt.

9 Turchin, Peter (2016) Ages of Discord, Chaplin, CT.: Beresta Books, S. 230.

10 Coase, Ronald (1937) The Nature of the Firm, Economica, Volume 4, Issue 16, S. 386 – 405.

11 North, Douglass (1991) Institutions, Institutional Change and Economic Performance, Cambridge: Cambridge University Press.

12 Acemoglu, Daron und Robinson, James (2012) Why Nations Fail, New York: Currency.

13 Acemoglu, Daron und Robinson, James (2012) Why Nations Fail, New York: Currency, S. 83.

14 Siehe etwa Samuelson (1980) Economics, zitiert in Acemoglu, Daron und Robinson, James (2012) Why Nations Fail, New York: Currency, S. 127.

15 Fukuyama, Francis (2006) The End of History and the Last Man, New York: Free Press.

16 Mc Closkey, Deirdre (2006) TheBourgeois Virtues, (2010) Bourgeois Dignity, (2016) Bourgeois Equality, Chicago: University of Chicago Press.

17 Mokyr, Joel (1990) The Lever of Riches: Technological Creativity and Economic Progress, New York: oxford University Press.

18 Lucas Robert (2002) Lectures on Economic Growth, Cambridge, Mass.: Harvard University Press.

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