16.04.2021 - Kommentare

Noch mehr Staat wagen?

von Marius Kleinheyer


Marina Mazzucato fordert in ihrem neuen Buch eine dominierende Rolle des Staates bei der Organisation von Wirtschaftsprozessen. Die Botschaft kommt zu einem ungünstigen Zeitpunkt und ist auch grundsätzlich problematisch.

Bei einer Buchveröffentlichung ist ein gutes Timing die halbe Miete. Mariana Mazzucato könnte sie mit der Veröffentlichung der deutschen Ausgabe ihres neuen Buchs „Mission – Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft“1 verpassen. Die bekannte italienisch-amerikanische Ökonomin fordert engagiert und rhetorisch geschickt einen grundlegenden Systemwechsel, weg vom Kapitalismus, hin zu einer sehr viel stärker planerischen Tätigkeit des Staates. Mit dieser Auffassung liegt sie eigentlich im Trend der letzten zehn Jahre. Angesichts des immer offenkundiger werden Staatsversagens in der Bekämpfung der Corona-Pandemie kommt die Forderung jetzt zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Die Botschaft ist aber auch grundsätzlich problematisch. Sie kann einer näheren Überprüfung weder in Theorie noch Praxis standhalten.

Mariana Mazzucato fordert, der Staat müsse bei der Bewältigung großer gesellschaftlicher Herausforderungen eine bestimmende Rolle einnehmen und selbst Innovationen in Gang bringen. Durch groß angelegte Projekte sollen Ressourcen für staatlich vorgegebene Ziele eingesetzt werden. Private Firmen müssten dabei in erster Linie staatlicher Anordnung folgen. Die Bevölkerung solle emotional eingebunden werden, um den politischen Widerstand möglichst gering zu halten. Vorbild für Mazzucatos Vision ist das Apollo-Programm der USA. John F. Kennedy proklamierte Anfang der 1960er Jahre, auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges, das Ziel, innerhalb von 10 Jahren einen bemannten Flug auf den Mond und wieder zurück zu ermöglichen. 1969 war es so weit, Neil Armstong betrat als erster Mensch den Mond. Heute sollen andere Ziele formuliert und erreicht, aber wie eine Mond-Mission angegangen werden, zum Beispiel der „Kampf gegen den Klimawandel“. Kosten dürften dabei keine Rolle spielen.

Die Analyse der Krisensituation setzt bei einem gängigen anti-kapitalistischen Narrativ an. Schuld für diverse, plakativ proklamierte Probleme ist „der Kapitalismus“. Eine genauere Definition oder Analyse bleibt aus, die Autorin vertraut auf die Wirkung des politischen Kampfbegriffs. Von der globalen Erderwärmung, dem Artensterben über Einkommens- und Vermögensungleichheit, bis zur Geldpolitik der Zentralbank oder sogar zum Covid-19 Virus selbst, das „Thatcher- Reagan- Modell“ hat versagt und findet keine Antworten mehr. Letztlich auch die politischen Krisen, populistischen Bewegungen und das mangelnde Vertrauen in politische Institutionen sind dem Kapitalismus zuzurechnen.

Um große Herausforderungen zu meistern, bedürfe es laut Mazzucato eines Paradigmenwechsels für den Staat. Sie glaubt dabei an eine selbsterfüllende Prophezeihung: Eine Gesellschaft bekomme die Art von Regierungsorganisationen, die sie für möglich hält.2 Beispiele für gelungenes Regierungshandeln gäbe es genug, angefangen bei Roosevelts New Deal, der die ideologische Vorlage gibt für den „Green New Deal“ von Ursula von der Leyen in Europa oder Alexandria Ocasio-Cortez in den USA.3 Tatsächlich scheint die EU-Kommissionspräsidentin Inspiration für Mazzucato gewesen zu sein. Im Dezember 2019 erklärte von der Leyen bei der Vorstellung ihres 30-Jahre-Plans zum klimaneutralen Umbau von Energieversorgung, Verkehr, Industrie und Landwirtschaft: „Das ist Europas Mann-auf-dem-Mond-Moment“.4 

Nicht die Höhe des Wachstums, sondern die Richtung des Wachstums solle in den Mittelpunkt der Diskussion rücken. Beispielhaft führt die Autorin die Energiewende in Deutschland an.5 Ähnlich wie die Wirkung von Sputnik auf das Raumfahrtprogramm der Amerikaner, hätte der Unfall im Atomkraftwerk von Fukushima für breite Unterstützung der Mission Atomausstieg in Deutschland geführt. Die deutsche Energiewende zeige, wie umfassend Regierungsmissionen heute gedacht werden müssten. Im Gegensatz zur Apollo Mission, die in erster Linie eine technologische Herausforderung darstellte, gehe es heute um die Orchestrierung eines breiten gesellschaftlichen Wandels.

Mazzucato schlägt ein Wirtschaftsmodell vor, dass auf sieben Säulen steht.6 Erstens: Politik, Gesellschaft und Unternehmen schaffen Werte zusammen, in dem sie zusammen in eine Richtung zum Wohle der Gemeinnützigkeit operieren. Zweitens: Der Staat ist nicht dazu da, etwaiges Marktversagen zu korrigieren, sondern die Märkte mitzugestalten und ihnen Richtung zu geben. Drittens: Organisationen sollten nach dem Prinzip der Kooperation und nicht des Wettbewerbs gestaltet werden. Viertens: Finanzierungskosten dürfen keine Rolle spielen, ähnlich wie in einem Kriegsfall. Fünftens: Statt Umverteilung, sorgt die Form des Wirtschaftens für Gleichverteilung, etwa durch genossenschaftliche Eigentümerstrukturen. Sechstens: Über das gemeinsame Ziel kommt zwischen Staat und Privatwirtschaft auch ein neuer Sinn für Partnerschaft zu Stande. Siebtens: Teil dieser Partnerschaft sind neue Partizipationsmöglichkeiten für alle Beteiligten in Form von Diskussionen und Konsensfindungen, etwa in Form von Bürgerforen.

Nicht jeder, der von einer besseren Welt träumt, sollte deshalb gleich als naiv abgestempelt werden. Aber das schwarz-weiß Schema, in dem Mariana Mazzucato die Probleme der Welt dem Kapitalismus zuordnet und die Lösungen dem Staat zutraut ist in diesem Ausmaß für eine geschulte Ökonomin ungewöhnlich. Die mangelnde Schärfe in der Problemanalyse setzt sich bei den Lösungsansätzen fort.

Selbst wenn man zu der Überzeugung kommen würde, der Staat sollte Ziele vorgeben, müssen diese Ziele spezifisch und realistisch sein. Raketentechnik war im Großen und Ganzen erforscht und verstanden. Bereits 1971 kam Richard Nixon auf die Idee, dass Apollo-Programm zur Schablone für weltlichere Programme zu nutzen. Er erklärte den „War on Cancer“, mit dem Ziel ein Heilmittel gegen Krebs in den nächsten 25 Jahren zu entdecken. In einer Rede zur Lage an die Nation erklärte er: “The time has come in America when the same kind of concentrated effort that split the atom and took man to the moon should be turned toward this dread disease. Let us make a total national commitment to achieve this goal.”7 Das Ziel war nicht spezifisch und realistisch. Damals wusste man sehr wenig über Zellmutationen, bis heute wird geforscht. Interessanterweise erwähnt Mazzucato Nixons „War on Cancer“ an keiner Stelle.

Die Probleme greifen aber sehr viel tiefer. Ein wesentlicher Vorteil marktwirtschaftlicher Prozesse ist das Zulassen subjektiven Wissens und die Entfaltung persönlicher Pläne und Ziele. Erst durch den Wettbewerbsprozess können bessere Lösungen herausgefunden werden, die vorher gar nicht bekannt waren. „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“ ist ein zentrales Thema in Hayeks Werk.8 Darauf baut auch das Preissystem auf, das durch Anzeigen von Knappheiten ein wesentliches Kommunikationsmittel für die Koordinierung einer freien Gesellschaften darstellt. Eine gesamte Gesellschaft auf ein Ziel oder auf eine Technologie festzulegen, birgt ein unüberschaubares Risiko für den Fall des Scheiterns mit sich. Die Widerstandsfähigkeit einer Gesellschaft gegen adverse Bedingungen entsteht durch Dezentralität und Subsidiarität. Die Sowjetunion war zwar noch vor den Amerikanern, bereits in den 1950er Jahren im All, aber bis zu ihrem Zerfall 1991 nicht annähernd in der Lage, einen vergleichbaren Lebensstandard der Bevölkerung oder Umweltschutz zu ermöglichen. Allein diese Tatsache spricht dafür, dass die Komplexität eines Marktgeschehens nicht durch ein ambitioniertes Regierungsprogramm simuliert werden kann, sei sie auch noch so allgemeinwohlorientiert.  

Offene demokratische Gesellschaften leben von Pluralismus. Nicht die Raumfahrt, sondern die Informationstechnologie hat in den letzten 50 Jahren die Grenzen des Möglichen auf der Erde verschoben. Auch wenn die Grundlagenforschung staatlich gefördert ist, oder die ersten Ansätze in militärischen Forschungseinrichtungen geleistet wurden, der kommerzielle Erfolg lässt sich nur durch den Einsatz von Unternehmern erklären, die immer wieder Innovationen an den Markt gebracht haben. Eine verbindliche große Vision war dafür nicht nötig und hätte im Zweifel die Entwicklung nur behindert.

Weder Roosevelts New Deal noch die deutsche Energiewende seit 2011 können davon überzeugen, dem Staat mehr Verantwortung für Innovationen und die Richtung der Marktwirtschaft anzuvertrauen. Die Coronapandemie bietet dafür ein anschauliches Beispiel. Der Markt hat in der Pandemie seine Leistungsfähigkeit bewiesen, der Staat ist diesen Beweis bis heute schuldig geblieben. Die Geschwindigkeit in der Entwicklung des Impfstoffes oder auch bei der Produktion von Schutzmasken ist beeindruckend. Die Gründer der Firma BioNtech haben kurzerhand, beim Frühstück(!), entschieden, ihre auf Krebsmittel ausgerichtete Forschung auf die Suche nach einem Impfstoff umzustellen. Man stelle sich vor, auch die Verteilung des Impfstoffes läge in der Verantwortung von Unternehmern, die sich im Rahmen staatlicher Spielregeln um die beste Lösung streiten. Die Konsumenten könnten sich aussuchen, welchen Impfstoff sie nehmen möchten. Eine schöne Vision.


1 Mazzucato, Marina (2021) Mission - Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft Campus Verlag: Frankfurt a. M.

2 Mazzucato, Mariana (2021) Mission Economy - A Moonshot Guide to Changig Capitalism, Penguin Random House: London, S. 59

3 Ebenda. S. 139

4 „Green Deal“: Von der Leyen erklärt Details ihres Klimaplans - WELT

5 Mazzucato, Mariana (2021) Mission Economy - A Moonshot Guide to Changig Capitalism, Penguin Random House: London, S.143

6 Ebenda. S.165

7 Richard Nixon, State of the Union Address, Januar 1971

8 Siehe Hayek, (1969) Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, in Freiburger Studien, Mohr Siebeck: Tübingen, S. 249

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