15.10.2020 - Kommentare
In Großbritannien werden derzeit gerne Politiker vorgeführt, wenn sie mit der Fehlerquote von Tests auf das Coronavirus konfrontiert werden.1 Rechenbeispiele suggerieren, dass der Großteil aller Neuinfizierten gar nicht erkrankt sei, sondern der Test falsche Ergebnisse liefere. Statt einer zweiten Welle läge in Wahrheit eine sogenannte „Casedemic“ vor. Die Einschränkung der bürgerlichen Freiheit würde auf Basis von falschen Daten getroffen werden. Da diese Argumentation auch vermehrt in Deutschland zu vernehmen ist, lohnt es sich die Argumente zu durchleuchten.
Tests und ihre Fehleranfälligkeit
Im Zentrum der Diskussion steht der sogenannte PCR-Test, mit Hilfe dessen weltweit versucht wird, in Proben Erbgut von SARS-CoV2 nachzuweisen, welches als Indikation für eine Covid-19-Infektion betrachtet wird. Wie jeder andere Test auch ist ein PCR-Test auf das Coronavirus nicht fehlerfrei und kann durch unsachgemäße Ausführung oder mangelnde Qualität sowohl Infektionen übersehen als auch fälschlicherweise Infektionen anzeigen.2
Während man überprüfen kann, wie häufig eine Infektion übersehen wird, ist dies bei den falsch-positiv klassifizierten Infektionen bereits deutlich komplizierter. Die falsch-positiv Rate eines Tests ist nur in kontrollierten Experimenten bestimmbar, nicht aber in der täglichen Anwendung, da es keine gangbare Alternative zur Feststellung einer Infektion gibt und der Anteil infizierter Probanden daher ebenfalls unbekannt ist.
Kommt es bei einem Test zu vielen falsch-positiv klassifizierten Ergebnissen, so gibt die Masse der Testergebnisse die Infektionslage nicht adäquat wieder. Daher ist für den Nachweis einer Casedemic der unbekannte Anteil falsch-positiver Ergebnisse das entscheidende Puzzlestück.
Eine einfache Überlegung
Am 15. September wurden in Großbritannien 200.000 PCR-Tests durchgeführt.3 Unter der Annahme, dass unter 100 PCR-Tests stets ein falsch-positives vorzufinden ist, sind 2.000 Testergebnisse falsch-positiv. Insgesamt gab es an dem Tag 2.600 positive Resultate. Dies würde bedeuten, dass rund 80% der Ergebnisse falsch seien. Das ist aber ein Trugschluss.
Die Mathematik ist schuld
Kern der Überlegung ist der Satz von Bayes, einem wesentlichen Bestandteil der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Man kann das vom dem englischen Pfarrer Thomas Bayes gefundene Theorem wie folgt verstehen: Zunächst hat man eine Vermutung. Dann bekommt man eine neue Information und kann durch sie die Vermutung präzisieren.
Angewendet bedeutet dies: Man befürchtet sich mit Covid-19 angesteckt zu haben und bemisst die Wahrscheinlichkeit anhand der aktuellen Inzidenz. Nehmen wir mal an, diese sei 1%. Um Klarheit zu erlangen, lässt man einen PCR-Test durchführen. Ein positives Testergebnis würde dann die neue Information darstellen. Wir nehmen an, dass der Test in 99% aller Fälle Infektionen erkennt. Multipliziert man die ursprüngliche Wahrscheinlichkeit (1%) mit der Wahrscheinlichkeit, dass ein PCR-Test eine Infektion nicht übersieht (99%), und teilt sie durch den Anteil aller positiv ausfallenden Tests (1,4% im Beispiel für Großbritannien), so erhält man die präzisierte Vermutung (70,7%)4. Diese entspricht der Wahrscheinlichkeit ein richtig-positives Ergebnis zu erhalten, also an Covid-19 erkrankt zu sein. Auf den ersten Blick sieht das Testergebnis demnach alles andere als verlässlich aus.
Für die Einschätzung der persönlichen Situation mag die Anwendung des Satz von Bayes sinnvoll sein. Man kann daraus folgern, dass man nicht zu 100% in das Testergebnis vertrauen, sondern möglicherweise einen zweiten Test durchführen sollte. Mit der Logik von Bayes jedoch sichere Schlüsse über die allgemeine Anzahl richtig-positiv und falsch-positiv getesteter Personen zu ziehen, ist unmöglich. Das Problem hierbei ist, dass der Satz von Bayes eine Anfangsvermutung erfordert. Möchte man mit Hilfe des Satzes die falsch-positiv Rate aller Tests berechnen, benötigt man den genauen Anteil infizierter Personen in der gesamten Bevölkerung als Anfangsvermutung (im obigen Beispiel 1%). Diese Information ist in Wirklichkeit jedoch unbekannt. Nutzt man den Anteil aktuell erkrankter Personen, die über PCR-Tests ermittelt wurden, um dies zu approximieren, dreht man sich im Kreis. Schließlich testet man, um genau diese Information herauszubekommen.5
Im obigen Rechenbeispiel für Großbritannien, welches in ähnlicher Form zur Begründung einer Casedemic verwendet wird, wurde sowohl die falsch-positiv Rate des Tests als auch der Anteil der Bevölkerung, der tatsächlich infiziert ist, als bekannt vorausgesetzt. Man hat quasi das Ergebnis angenommen, um es herzuleiten.
Ausweitung der Testaktivität
Ein weiteres Problem ist, dass die Änderung einer Teststrategie zu einer erhöhten Anzahl an falsch-positiven Ergebnissen führen kann. Die Anzahl der falsch-positiven Ergebnisse verhält sich proportional zur Anzahl durchgeführter Test. Weitet man die Testaktivität auf einen Bevölkerungsteil aus, in dem eine niedrigere Prävalenz vorherrscht, so steigt das Verhältnis von falsch-positiven zu richtig-positiven Ergebnissen. Um dies festzustellen ist wiederum die Kenntnis der Prävalenzrate in dem neu getesteten Bevölkerungsanteil notwendig. Möchte man in diesem Szenario eine Casedemic nachweisen, muss man ebenfalls eine Annahme treffen, mit der man erneut das Ergebnis direkt bestimmt.
Ein Blick abseits der Statistik hilft weiter
Da das Problem falsch-positiver Ergebnisse ein bekanntes Problem der Statistik ist, nutzen Testlabore sogenannte Vorwahrscheinlichkeiten, um die Plausibilität von Testergebnissen zu überprüfen. Vorwahrscheinlichkeiten werden über direkten Kontakt zu Infizierten, Aufenthalt in Hochrisikogebieten, etc. bestimmt. Ist die Vorwahrscheinlichkeit gering, das Testergebnis jedoch positiv, so erfolgt, auch im Sinne von Bayes, in der Regel ein zweiter PCR-Test.
Seit Mitte September ist die Testintensität in Großbritannien um 30% angestiegen. Gleiches wäre von der Anzahl positiver Ergebnisse zu erwarten, wenn tatsächlich ein Großteil falsch-positiv wäre. Tatsächlich sind die positiven Testergebnisse aber um 570% gestiegen.
Not a casedemic, it’s a pandemic
Es lässt sich „leider“ schlussfolgern, dass keine Casedemic vorliegt, sondern SARS-Cov2 wieder auf dem Vormarsch ist. Die Nachweise einer Casedemic beruhen auf Annahmen, welche das Ergebnis direkt implizieren. Eine saubere Beweisführung sieht anders aus.
1 Zusammenschnitt von Interviews auf YouTube.
3 Datenquelle: ourworldindata.org
4 (0,01 * 0,99) / 0,014 = 0,707 = 70,7%
5 Also (0,01 * 0,99) / 0,01 = 0,99, was man ja schon vorher wusste.
20.05.2020 - Gesellschaft & Finanzen
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