19.07.2023 - Studien

Staat oder Markt: Die normative Kraft des Faktischen

von Marius Kleinheyer


Westliche Gesellschaften werden durch das Zusammenspiel von zwei unterschiedlichen Paradigmen geprägt, dem Marktparadigma und dem Staatsparadigma. Die gesellschaftliche Akzeptanz dieser Paradigmen unterliegt unregelmäßigen zyklischen Schwankungen. Mal dominiert das Marktparadigma, mal dominiert das Staatsparadigma. Idealtypisch kommt es an den Wendepunkten zu einem Paradigmenwechsel. Keines der beiden Paradigmen konnte sich seit dem Zweiten Weltkrieg dauerhaft gegen das andere durchsetzen.

Die Dynamik der Paradigmenwechsel verläuft asymmetrisch. Ein Paradigmenwechsel hin zu einem neuen Staatsparadigma wird üblicherweise durch ein unterstützendes dominantes intellektuelles und politisches Klima angetrieben. Ein Paradigmenwechsel hin zum Marktparadigma wird insbesondere durch eine kriseninduzierte Einsicht in die Notwendigkeit für liberale Reformen angetrieben.

Mit steigender Inflation und steigenden Zinsen wäre seit 2022 eigentlich das abermalige Momentum für das Marktparadigma gekommen. Die Politik des billigen Geldes kommt an ihr unvermeidliches Ende. Der Spielraum des Staates für Neuverschuldung ist wesentlich eingeschränkt. Trotzdem dominiert weiter das Staatsparadigma. Der Ökonom und Journalist Thomas Fricke argumentiert, dass sich jetzt erst das neue Staatsparadigma richtig herausbildet und das Potential besitzt, das Marktparadigma zu verdrängen. Er entwirft eine umfassende Skizze, die die Entwicklungen in der Wissenschaft, den internationalen Organisationen und der Politik darstellt. Die wichtigsten Treiber des neuen Staatsparadigmas sind der „Kampf gegen den Klimawandel“ und der „Kampf gegen die Ungleichheit“.

Diese Zustandsbeschreibung ist zwar weitestgehend zutreffend, aber als Krisensymptom und nicht als Hoffnungszeichen zu werten. Der Druck für liberale Reformen steigt. Die Realität ökonomischer Gesetzmäßigkeiten wird das neue Staatsparadigma nicht ändern können, obwohl es die intellektuelle und politische Debatte dominiert. Wie von dem österreichischen Ökonomen Eugen von Böhm-Bawerk schon vor über hundert Jahren treffend festgestellt, führt bei der Frage „Macht oder ökonomisches Gesetz?“ an der normativen Kraft des Faktischen letztendlich kein Weg vorbei.1 Das Ausbleiben einer Renaissance des Marktparadigmas hätte aber gravierende Konsequenzen für das Gleichgewicht des Systems und den Wohlstand der Bürger.

Marktparadigma und Staatsparadigma

Das Marktparadigma geht davon aus, dass Märkte die effiziente Art und Weise sind, wirtschaftliche Aktivitäten zu organisieren und Ressourcen zu verteilen. Ausgangspunkt ist die individuelle Handlungsfreiheit und die Möglichkeit, Angebot und Nachfrage in einem Wettbewerbsprozess zu koordinieren. Freie Preise sind das zentrale Kommunikationssystem. Sie signalisieren relative Knappheiten. Die Rolle des Staates ist begrenzt. Innerhalb seiner Aufgaben verlangt das Marktparadigma einen starken und durchsetzungsfähigen Staat. Hauptsächlich besteht die Aufgabe des Staates in der Gewährleistung und Sicherung von Eigentumsrechten und der Bereitstellung öffentlicher Güter, wie etwa das Rechtssystem und die Sicherheit.

Das Staatsparadigma zeichnet sich durch ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber dem Markt aus. Im Staatsparadigma werden schnell Marktversagen oder unerwünschte soziale Ergebnisse diagnostiziert, die mithilfe weitreichender Interventionen des Staates therapiert werden sollen. Der Staat stellt darüber hinaus umfassende Sozialleistungen zur Verfügung, reguliert Unternehmen und sorgt für Einkommens- und Vermögensumverteilung. Der Staat ist auch zuständig für die makroökonomische Lenkung der Volkswirtschaft. Der Staat spielt eine aktive Rolle in der Wirtschaft, um soziale Gerechtigkeit herzustellen. Außerdem soll er als Innovator und Investor auftreten, um zum Beispiel den Klimawandel abzuwenden.

Paradigmenwechsel in der Geschichte der Bundesrepublik

Nach dem zweiten Weltkrieg sorgte die Soziale Marktwirtschaft für die schnelle wirtschaftliche Erholung der Bundesrepublik. Ludwig Erhard und das „Wirtschaftswunder“ stehen bis heute für eine außergewöhnliche Zeit der erfolgreichen Implementation des Marktparadigmas in Deutschland.

Mitte der 1960er Jahre fand ein erster Paradigmenwechsel statt. Mit der erstmaligen Beteiligung der SPD an der Bundesregierung und dem Wirken des damaligen Wirtschaftsministers Karl Schiller kam es zur Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Das Staatsparadigma erlebt in der Bundesrepublik eine erste Hochkonjunktur. In den 1970er Jahren gerät das Staatsparadigma bereits ins Wanken. Mit der Ölkrise 1974 kommt die keynesianische Wirtschaftspolitik an ihre Grenzen. Die Stagflation wurde als allgemeines Problem erkannt, für die das Staatsparadigma keine Lösung zu bieten hatte.2

Durch die Notwendigkeit für liberale Reformen fand der nächste Paradigmenwechsel Anfang der 1980er statt. In den USA und Großbritannien ist dieser Wechsel mit einer Neuausrichtung auf die Angebotspolitik und dem politischen Erfolg von Ronald Reagan und Margaret Thatcher verbunden. In Deutschland ist die Renaissance des Marktparadigmas eng verknüpft mit dem sogenannten Lambsdorff-Papier, benannt nach dem damaligen Wirtschaftsminister. Er forderte eine Stärkung der Marktwirtschaft gegenüber der Planwirtschaft, insbesondere Bürokratieabbau, Konsolidierung öffentlicher Haushalte, Konzentration der Staatsausgaben auf investive Ausgaben, Umbau der Sozialversicherungen auf mehr Eigenverantwortung.3 Mit dem Regierungswechsel 1982 fand der Paradigmenwechsel seine politische Entsprechung in Deutschland.

Seit 1990 wurde deutlich, dass die politischen Parteien in Deutschland nicht unbedingt den jeweiligen Paradigmen zuzuordnen sind. Auch die Zurechnung ökonomischer Phänomene in den jeweiligen Verantwortungsbereich der beiden Paradigmen ist schwerer geworden. Das hat die Entwicklung der letzten 30 Jahre bis 2021 gezeigt. Während in der Nachwendezeit unter der schwarz-gelben Bundesregierung das Staatsparadigma insbesondere bei der Integration von Ost und Westdeutschland nach der Wiedervereinigung dominierte und ambitionierte liberale Reformen ausbleiben, entwickelt sich Deutschland zum „kranken Mann Europas“. Unter der rot-grünen Bundesregierung von Bundeskanzler Gerhard Schröder wurde auf die problematische Lage reagiert. Anfang der 2000er Jahre wurden weitreichende liberalen Reformen unter dem Namen Agenda 2010 durchgesetzt. Der Reformeifer kam unter der neuen Bundeskanzlerin Angela Merkel ab 2006 wieder weitestgehend zum Erliegen.

Trotz der Reformen am Arbeitsmarkt und in der Sozialpolitik lässt sich die Zeit vor der Finanzkrise nur sehr eingeschränkt als eine Zeit der Dominanz des Marktparadigmas beschreiben. International und auch in Deutschland kann die Zeit als „Dritter Weg“ bezeichnet werden.4 Zwar gab es in vielen Politikbereichen liberale Ansätze, die Geldpolitik wurde aber auf Globalsteuerung ausgerichtet und gab damit dem Staatsparadigma einen wirkungsmächtigen Gestaltungsspielraum. Nicht das Markt- sondern das Staatsparadigma ist für die Boom-Bust-Politik der Zentralbanken verantwortlich.

Trotzdem wurde die intellektuelle und politische Debatte um die Frage nach den Ursachen und Verantwortlichkeiten in der globalen Finanzkrise von den Vertretern des Staatsparadigmas klar und deutlich gewonnen. Seit der Finanzkrise und der anschließenden Eurokrise, die eigentlich auch in der Verantwortlichkeit des Staatsparadigmas liegt, ist das Marktparadigma weitestgehend diskreditiert. Seitdem entfaltet sich das Staatsparadigma mit der kräftigen Hilfe der Null- und Negativzinspolitik der Zentralbanken in ungeahnter Stärke und Geschwindigkeit. Aufgrund des exogenen Schocks der Corona-Pandemie erlebt das Staatsparadigma einen vorläufigen historischen Höhepunkt, der bis dahin im Rahmen eines freiheitlichen Rechtsstaats nicht für möglich gehalten wurde.

Die grundsätzliche Kritik am Marktparadigma

Der Ökonom und Journalist Thomas Fricke hat 2019 den Think Tank „Forum New Economy“ gegründet und 2023 eine Überblicksstudie mit dem Titel „Mapping the State of a Shifting Paradigm“ publiziert. Diese Studie gibt einen repräsentativen Einblick in das Selbstverständnis der heutigen Verfechter des Staatsparadigmas und beschreibt gleichzeitig zutreffend das Vorherrschen des Paradigmas in der Wissenschaft, in internationalen Organisationen und in der Politik.

Typisch für die Argumentation heutiger Vertreter des Staatsparadigmas ist, die Zeit zwischen den 1970er Jahren und 2008 pauschal als Hochphase des Marktliberalismus bzw. (in Verkennung seiner eigentlichen Bedeutung) des Neoliberalismus zu deuten. Diese Zeit sei geprägt gewesen von den theoretischen Annahmen der neoklassischen Theorie, wie etwa das nutzenmaximierende rationale Individuum und der Vorstellung eines perfekten Wettbewerbs auf vollständig transparenten Märkten.

Obwohl es immer wieder Finanzkrisen gegeben habe, wie etwa in Asien Ende der 1990er Jahre oder das Platzen der dotcom-Blase Anfang der 2000er Jahre, sei das liberale Paradigma erst 2008 endgültig gescheitert. Die globale Finanzkrise habe gezeigt, dass Märkte nicht effizient seien, sondern durch „irrational exuberance“ bestimmt werden. Heute wisse man, dass die Annahme der effizienten Märkte nicht zu der Unfähigkeit der Märkte passe, auf die drängendsten Probleme wie die Klimakrise und die wachsende Ungleichheit zu reagieren.

Das neue Staatsparadigma gründet auf fünf Kritikpunkten an dem Marktparadigma5:

  1. Finanzmärkte produziere Boom-Bust Zyklen und entsprechende Finanzkrisen, sowie massive private Verschuldung
  2. Austerität in der Fiskalpolitik und das Ziel, den Einfluss der Regierung zurückzudrängen führt zu ökonomischen und sozialen Krisen und einem Mangel an öffentlichen Investitionen
  3. CO² Bepreisung über den Markt ist unzureichend und zu langsam, um den Klimawandel zu stoppen.
  4. Die Globalisierung freier Märkte hat zu einem Verlust politischer und individueller Kontrolle geführt, der wesentlich zum Vertrauensverlust in die Demokratie und die Stärkung populistischer Strömungen geführt hat.
  5. Deregulierte Arbeitsmärkte und boomende Finanzmärkte haben zu starken Einkommens- und Vermögenszuwächsen am oberen Ende und stagnierenden oder sogar zurückgehenden Einkommen am unteren Ende der Verteilung in Ländern wie den USA, Großbritannien oder Deutschland geführt.

Diese Unzulänglichkeiten des “Marktfundamentalismus“6 seien heute weitgehend konsensfähig. Dagegen habe sich in der Wissenschaft eine Reihe von neuen Ideen und Konzepten etabliert, die die Grundlage für das neue Staatsparadigma bilden.

Das neue Staatsparadigma in der Wissenschaft

Das neue Staatsparadigma lässt sich nicht mit der Darstellung eines kohärenten Modells oder konsistenter aufeinander aufbauender Forschung beschreiben. Stattdessen haben verschiedene unkoordinierte Forschungsbeiträge der letzten Jahre alle den gemeinsamen Nenner: Mehr Handlungsspielraum für den Staat.

Im Finanzbereich ist das neue Staatsparadigma bereits an die Grenzen der Realität gestoßen. Vertreter der Modern Monetary Theory haben gefordert, die Höhe der Schulden zu negieren, solange es keine Inflation gibt, um Wachstum und Beschäftigung zu erzeugen.7 Außerdem wurde gefordert, Zentralbanken sollen mehr Spielraum für ihre Geldpolitik erhalten, um eine aktivere Rolle bei der Finanzierung der Wirtschaft einzunehmen. Dazu sollten mit der Hilfe von Helikoptergeld Zahlungsströme direkt von den Zentralbanken an die Haushalte fließen.8 Diese Vorschläge sind durch den Anstieg der Inflation und der Zinsen offensichtlich nicht zeitgemäß, werden aber gleichwohl von den Verfechtern des Staatsparadigmas nicht als überholt betrachtet.

Die für das neue Staatsparadigma zentralen Themen sind aber die Klimapolitik und die Umverteilungspolitik. Sie sind das politische Fundament des Staatsparadigmas und verhindern hauptsächlich das Wiedererstarken des Marktparadigmas. Während in beiden Themenbereichen eine intellektuelle und politische Dominanz außer Frage steht, ist der Korrekturmechanismus der Realität entweder wegdefiniert oder in die weite Zukunft verschoben. Ungleichheit wird als relative Ungleichheit definiert und ist damit bereits per Definition nie zu überwinden. Die Auswirkungen des Klimawandels werden durch Modelle beschrieben, die notwendigerweise Komplexität reduzieren und empirisch nur durch „Backtesting“ überprüft werden können.9 Klimaprognosen haben sich in der Vergangenheit aber aufgrund struktureller Veränderungen des komplexen Klimasystems schon häufiger als falsch herausgestellt.10 Auf diese Weise soll die intellektuelle Dominanz des Staatsparadigmas gegen Logik und Erfahrung über die Korrekturnotwenigkeit des Marktparadigmas aufrechterhalten werden.

Im Folgenden werden einige wissenschaftliche Arbeiten beispielhaft kurz vorgestellt. Sie können in drei größere Themenkreise kategorisiert werden. Erstens, die Neudefinition der Rolle des Staates. Hier geht es darum dem Staat eine grundsätzlich aktivere Rolle im Wirtschaftsleben zuzuordnen. Zweitens, die Bekämpfung von Ungleichheit. Es geht um die Frage, ob der Staat über Umverteilung und Regulierung bessere soziale Zustände schaffen kann. Drittens, der Klimaschutz, mit dem weitreichende systemische Eingriffe in die Marktwirtschaft begründet werden.

1. Neudefinition der Rolle des Staates

Marina Mazzucato ist die wissenschaftliche Kronzeugin des neuen Staatsparadigmas. Öffentlichkeitswirksam fordert sie, dass der Staat wirtschaftspolitische Missionen durchführen und eine viel aktivere Rolle in der Organisation von Innovations- und Investitionsprozessen spielen soll.11 Ähnlich dem Ziel, einen Menschen auf dem Mond landen zu lassen, sollte der Staat große Projekte vorgeben, denen sich die Gesellschaft verschreibt. Unter staatlicher Führung und mithilfe öffentlicher Investitionen ließen sich die Menschen insgesamt inspirieren.12 Der Staat geht dabei über die Rolle des Regulators weit hinaus und wird selbst maßgeblich „unternehmerisch“ tätig. Staat und private Unternehmen sollen in Public-Private-Partnership Modellen miteinander arbeiten, wobei der Staat die Ziele der Kooperation vorgibt, wie etwa Klimaneutralität.

2. Bekämpfung von Ungleichheit

Die Bekämpfung der Ungleichheit durch Umverteilungspolitik ist ein zentrales Anliegen des Staatsparadigmas. Eine immer wieder vorgetragene Forderung ist die Erhöhung von Einkommens- und Vermögenssteuern, um den Finanzierungsspielraum des Staates zu erhöhen und Ungleichheit zu bekämpfen. So fordern beispielsweise die Ökonomen Emmanuel Saez und Gabriel Zucman in ihrem Paper „Progressive Wealth Taxation“13 eine progressive Besteuerung von Haushaltsvermögen.

Eine andere typische Forderung, die häufig bereits umgesetzt wurde, ist der Mindestlohn. Hier lässt sich der Paradigmenwechsel beispielhaft in der Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises beobachten. 1986 hieß der Preisträgen James M. Buchanan der zehn Jahre später im Wall Street Journal schrieb:

„Just as no physicist would claim that water runs uphill, no self-respecting economist would claim that increases in the minimum wage increase employment”14

2019 schreibt der Ökonom Daron Acemoglu ein Paper „It´s Good Jobs, Stupid!“15 in dem er betont, dass „gute Arbeitsplätze“ wichtig für die gerechte Verteilung von Wohlstand sind. Mindestlöhne und Gewerkschaften tragen dazu bei, dass diese guten Arbeitsplätze die schlechten verdrängen und sich gegenseitig verstärken. 2021 erhält David Card den Wirtschaftsnobelpreis. Er weist empirisch nach, dass ein höherer Mindestlohn nicht zu weniger Beschäftigung führe. Wissenschaftliche Erkenntnis wandelt sich im Laufe der Zeit, ökonomische Erkenntnis anscheinend mit der Mode.

Die Bekämpfung der Ungleichheit wird auch regelmäßig durch wissenschaftliche Veröffentlichungen im Auftrag der Bertelsmann Stiftung oder Oxfam gefordert.

3. Bekämpfung des Klimawandels

Die Positionierung des Klimawandels als wichtigste Herausforderung der Menschheit ist wohl der mächtigste Antreiber des neuen Staatsparadigmas. Die grundsätzliche Überzeugung der Klimapolitik im Zeichen des Staatsparadigmas ist, dass das Preissystem nicht ausreicht, um den Klimawandel zu bekämpfen. Mehr noch, der Klimawandel ist die Folge eines existenzbedrohenden Marktversagens. Wissenschaftler wie Ottmar Edenhofer betonen die Notwendigkeit koordinierter politischer Aktionen auf globaler Ebene und unterstützen Initiativen wie den European New Deal.

Der Ökonom Tom Krebs verfasste 2021 die Studie „Öffentliche Finanzierung von Klima- und anderen Zukunftsinvestitionen.16 Darin forderte er eine jährliche Investition von 30 Mrd. Euro aus Mitteln des Bundeshaushaltes in Klimaprojekte. Um die Schuldenbremse zu umgehen, sollten dafür die Ausnahmeregelungen aus der Corona-Pandemie genutzt werden. Mitautor der Studie war der damalige Leiter des Think Tanks „Agora Energiewende“ und spätere Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium Patrick Graichen.

Durch die Dramatisierung des Klimawandels zur Klimaapokalypse ist es „Klimawissenschaftlern“ und Aktivisten gelungen, die öffentliche Debatte zu dominieren und auf ein angeblich existenzielles Problem zu reduzieren. Als Folge davon werden andere, naheliegende und dringlichere Probleme auf die Seite geschoben und bleiben ungelöst. Denn warum soll man sich um den wirtschaftlichen Niedergang des Landes kümmern, wenn schon bald der „Klima-Tod“ droht?17

Das neue Staatsparadigma in internationalen Organisationen

Nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch und insbesondere in internationalen wirtschaftspolitischen Organisationen dominiert das Staatsparadigma. In den Veröffentlichungen lässt sich in der historischen Sicht der grundsätzliche Paradigmenwechsel hin zum Staatsparadigma deutlich erkennen.18

a) Internationaler Währungsfonds (IMF)

Bis in die 1990er Jahre hat der IMF das Ziel der Kapitalverkehrsfreiheit postuliert. 2012 hat man offiziell einen Strategiewechsel vollzogen und eingeräumt, dass Kapitalverkehrskontrollen in Krisenzeiten notwendig werden können.19 2022 ist man zu der Einsicht gekommen, dass aufgrund von makroprudenziellen Erwägungen sogar vorsorglich eingegriffen werden kann.20

Austeritätspolitik wurde früher als wichtige Bedingung für Preisstabilität und nachhaltige Staatsfinanzen erkannt. Dementsprechend war die Rückführung von Budgetdefiziten ein wichtiges strategisches Politikziel. Im Zuge der Eurokrise veröffentlichte der IMF ein Statement, die negativen Implikationen der Austeritätspolitik unterschätzt zu haben.21

b) Weltbank

In den 1990er Jahren war man in der Weltbank der Überzeugung, dass Wettbewerb der beste Weg ist, um Ressourcen zu allokieren und Innovationen hervorzurufen. Ein wichtiger Bestandteil des berühmten „Washington Consensus“ war die Privatisierung von staatlichen Unternehmen., die Liberalisierung der Handelspolitik und die Konsolidierung der Staatsausgaben.

2011 veröffentlich der damalige Chefvolkswirt der Weltbank Justin Lin das Paper „New Structural Economics“.22 Darin fordert er, dass Regierungen eine aktivere Rolle in der Industriepolitik spielen sollen. Seit 2012 betont der jährliche Growth Report die wichtige Rolle des Staates für eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung.

Während die Weltbank 2002 den „Ease of Doing Business“ Index veröffentlichte, in dem sie Länder nach den Freiheitsgraden für Unternehmen einordnete, wird seit 2022 an einer neuen Methodologie gearbeitet, der die positive Rolle von Staaten stärker berücksichtigt. Der zukünftige Index soll „Business Enabling Environment (BEE)“ heißen.23 2016 veröffentlichte die Weltbank zum ersten Mal den „Poverty und Shared Prosperity“ Report in dem im Gegensatz zu früheren Veröffentlichungen die Reduktion von Ungleichheiten als explizites Ziel formuliert wird.

c) OECD

Die OECD hat in ihren Arbeitsmarktberichten regelmäßig auf die Wichtigkeit deregulierter Arbeitsmärkte hingewiesen. Ein staatlicher Mindestlohn wurde mit höherer Arbeitslosigkeit assoziiert. 2015 wurde die Position zum Mindestlohn geändert. 2018 stellte die OECD die „revised job strategy“ vor.

In den 1990er Jahren war die OECD überzeugt, dass Steuerwettbewerb ein wichtiges Mittel für Kontrolle der Steuerbelastung und Staatsausgaben war. 2021 setzte die OECD mit Unterstützung der G20 Finanzminister eine Initiative für globale Mindestbesteuerung um.

Die OECD hat seit ihrer Gründung 1951 für das Bruttoinlandsprodukt als vergleichbare Maßzahl für den Wohlstand in einem Land geworben. 2011 startete die OECD die „Better Life Initiative“ um auch Aspekte wie Umweltschutz und Ungleichheit als Indikatoren zu erfassen. Alle drei Jahre veröffentlicht die OECD mittlerweile den „How is Life?“ Report.24

d) Europäische Kommission

Bis in die Mitte der 2000er Jahre war die Europäische Kommission eher am Marktparadigma orientiert. Der Maastricht Vertrag sollte der Gefahr des Moral Hazard in einer Währungsunion begegnen. Staatsschulden und Haushaltsdefizite sollten begrenzt werden. Im Zuge der Eurokrise wurden die Regeln flexibler ausgelegt. „Juncker-Plan“ und EU Next Generation Fund sowie der European Green Deal machen deutlich, dass die Kommission mittlerweile das Staatsparadigma vorantreibt.

Im Jahr 2000 verabschiedete die EU-Kommission die „Lissabon-Strategie“. Ziel war es, die Europäische Union innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Zentrales Anliegen war die Stärkung des Binnenmarktes durch Liberalisierung und die Absage an staatliche Industriepolitik. 2020 verabschiedete die Europäische Kommission „A New Industrial Strategy for Europe“25 um mit Industriepolitik die Transformation hin zu Klimaneutralität und Digitalisierung zu erreichen.

e) Europäische Zentralbank (EZB)

Die Europäische Zentralbank wurde nach dem Vorbild der deutschen Bundesbank entworfen, die traditionell in der Bundesrepublik eine Vertreterin des Marktparadigmas war und für die relative Stabilität der Deutschen Mark sorgte. Deshalb wurde Preisstabilität als Primärziel in den Europäischen Verträgen festgelegt.26 In den Europäischen Verträgen wurde auch eine No-Bailout Klausel vereinbart, um die EU-Mitgliedsstaaten zu Haushaltsdisziplin anzuhalten.

Durch die Erfahrungen der Euro-Krise hat sich die Meinung durchgesetzt, dass die Europäische Zentralbank als „Kreditgeber der letzten Instanz“ für Staaten handeln muss, was gegen die No-Bailout-Klausel und das Verbot der Monetisierung von Staatsschulden verstößt. Seit 2021 engagiert sich die EZB auch offiziell gegen den Klimawandel, wodurch sie ihr Mandat eigenmächtig noch weiter ausgeweitet hat.

Dominanz des neuen Staatsparadigmas scheitert an der Realität

“Some men say the earth is flat. Some men say the earth is round. But if it is flat, could Parliament make it round? And if it is round, could the King´s command flatten it?”27

Obwohl das neue Staatsparadigma in der Wissenschaft, in den internationalen Organisationen und in der Politik dominiert, ist es in Bedrängnis geraten.  Nicht durch ein neues Marktparadigma, sondern durch die Realität. Die Ansprüche des Staatsparadigmas überfordern die Leistungsfähigkeit des Staates.

Steuern und Abgaben, Verbote, Taxonomien, Bürokratie, hohe Kosten für Strom, Gas und Benzin schwächen die Leistungsfähigkeit von Staat und Wirtschaft. Deutschland leidet unter einer Produktivitätsschwäche28, die nur durch die Wiederbelebung des Marktparadigmas behoben werden kann. Zusätzlich wird der Finanzierungsspielraum der Staaten aufgrund der hohen Schuldenstände und steigender Zinsen immer mehr eingeschränkt.

Der Blick auf die Entwicklung der Staatsverschuldung (Grafik 1) zeigt, dass auch in den Phasen der Dominanz des Marktparadigmas die Staatsverschuldung angestiegen ist. Heute haben die G7 Staaten historisch hohe Schuldenquoten, die in vergleichbarer Höhe früher nur in Kriegszeiten erreicht wurden.

Der Ökonom und ehemalige Staatssekretär im Bundesfinanzministerium Ludger Schuknecht gibt in seinem aktuellen Buch „Debt Sustainability“29 zu bedenken, dass die Schuldentragfähigkeit durch zukünftige Herausforderungen wie die Alterung der Bevölkerung oder gestiegene geopolitische Risken zusätzlich gefährdet wird. Schuknecht sieht im Wesentlichen zwei Szenarien:30

Szenario 1: Die Länder strengen marktwirtschaftliche Reformen an, um das Potential für Wirtschaftswachstum zu erhöhen und die fiskalischen Ungleichgewichte zu verringern.

Szenario 2: Durch Finanzrepressionen wird der reale Wert der Schulden gedrückt. Der Staat entschuldet sich über Inflation und künstlich niedrige Zinsen.

Szenario 1 ist die Umsetzung des Marktparadigmas, Szenario 2 ist die Umsetzung des Staatparadigmas. Solange das Staatsparadigma dominant ist, wird Szenario 2 umgesetzt. Schuknecht warnt, dass Finanzrepressionen nur eine Aussicht auf Erfolg haben, wenn das Vertrauen in die Politik bestehen bleibt. In diesem Fall können sie eine Brücke hin zu strukturellen Reformen bauen. Das war die Idee unmittelbar nach der Finanzkrise. Durch die lockere Geldpolitik sollen Staaten die notwendige Zeit erhalten, Reformen der Staatsfinanzen durchzuführen. Heute zeigt sich, dass die Zeit nicht genutzt wurde.

Schuknecht gibt zu bedenken, dass im Falle größerer Politikfehler das Vertrauen der Bevölkerung schwindet und finanzielle Repressionen einen zusätzlichen destabilisierenden Effekt haben können. So profitiert etwa der politische Populismus von Inflation.31 Diese Entwicklung ist in Deutschland bereits zu beobachten. Verschiedene Umfragen berichten, dass das Vertrauen in Politik und die staatlichen Institutionen schwindet.32

Fazit

„Man müßte heutzutage ein Idiot sein, wenn man einen Einfluß der sozial geschaffenen Einrichtungen und Maßregeln auf die Güterverteilung leugnen wollte“, schrieb Böhm-Bawerk im Jahr 1914.33 „Aber es wird umgekehrt auch kein Verständiger der Meinung sein können, daß die „soziale Regelung" omnipotent und allein entscheidend sei. Man hat genug oft erlebt, daß niedrige staatliche Preistaxen unvermögend sind, in Hungerjahren das Getreide billig zu machen; und wir erleben es alle Tage, daß Streiks ergebnislos verlaufen, wenn sie auf die Erreichung von Arbeitslöhnen abzielten, die, wie man sich auszudrücken pflegt, in der „ökonomischen Lage" nicht begründet sind“, gibt er weiter zu bedenken. Leider ist diese Erkenntnis heute wieder einmal verloren gegangen. Politische Macht meint, über das „ökonomische Gesetz“ in noch größerem Umfang herrschen zu können als zu den Zeiten von Böhm-Bawerk. Das ging in der Geschichte noch nie gut aus. Trotzdem ist ein Paradigmenwechsel hin zum Marktparadigma nicht abzusehen. Diese Situation vergrößert die Gefahr von politischer und ökonomischer Instabilität.

Von Ernst Helmstädter kennen wir das Konzept des zirkulären Fortschritts in der wirtschaftswissenschaftlichen Erkenntnis.34 Einander ähnliche Probleme kehren in mehr oder weniger langen Zeitabständen immer wieder. Ist der zeitliche Abstand größer, hat man die früher erarbeitete Lösung für das Problem möglicherweise wieder vergessen und muss sie erneut erlernen. Vermutlich muss das Scheitern der „Macht“ erst unübersehbar werden, bevor Besserung möglich wird. Wir sind auf dem Weg dorthin, aber noch nicht am Ziel. In den Worten des italienischen Philosophen Antonio Gramsci: „Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Es ist die Zeit der Monster.“


1 Böhm-Bawerk, Eugen von (1914), Macht oder Ökonomisches Gesetz? In: Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung. Band 23, S. 205–271.

2 Ausführlich dazu: Kleinheyer, Marius (2022) Die große Inflation: Lernen durch Schmerz, Flossbach von Storch Research Institute.

3 Mayer, Thomas (2018) Die Ordnung der Freiheit und ihre Feinde, München: FBV, S. 84.

4 Ibid. S. 86.

5 Fricke, Thomas et al. (2023) Mapping the State of a Shifting Paradigm, Forum New Economy, S. 65.

6 Ibid. S. 65.

7 Kelton, Stephanie (2020), The deficit myth, Public Affairs Books.

8 Tooze, Adam (2022), Debating Central Bank Mandates, Forum New Economy. Siehe: https://newforum.org/en/debating-central-bank-mandates/ Zur Idee des Helikoptergeldes: Turner, Adair (2013) Debt, Money and Mephistopheles: How do we get out of this mess? Modern Monetary Network.

9 Wie Finanzmarktmodelle wiederholt demonstriert haben, kann aus einer modellierten Erklärung der Vergangenheit keine Prognose abgeleitet werden, wenn sich die Strukturen eines Systems über die Zeit verändern.

10 Siehe etwa die Prognosen des Club of Rome oder von Al Gore.

11 Mazzucato, Marina (2021) Mission Economy: A Moonshot Guide to Changing Capitalism, London: Penguin Books.

12 Eine detaillierte Kritik an diesem Ansatz findet sich hier: Kleinheyer Marius (2021) Noch mehr Staat wagen?Flossbach von Storch Research Institute.

13 Saez, Emmanuel und Zucman, Gabriel (2019) Progressive Wealth Taxation, Brookings Papers on Economic Activity, S. 437 – 533.

14 Buchanan, James M. (1996) Minimum Wage vs. Supply and Demand, Wall Street Journal, 24. April 1996.

15 Acemoglu, Daron (2019) It´s Good Jobs, Stupid, Economics for Inclusive Prosperity, siehe: It's Good Jobs, Stupid (econfip.org)

16 Krebs, Tom (2021) Öffentliche Finanzierung von Klima- und anderen Zukunftsinvestitionen, Siehe: Microsoft Word - A-EW_244_KlimaInvest_II_WEB_v1.2 (agora-energiewende.de)

17 Siehe dazu Mayer, Thomas (2023) Ein Gespenst geht um in Deutschland, Flossbach von Storch Research Institute

18 Fricke, Thomas et al. (2023) Mapping the State of a Shifting Paradigm, Forum New Economy, S. 35.

19 IMF (2012) The Liberalization and Management of Capital Flows – An Institutional View.

20 IMF (2022) The Liberalization and Management of Capital Flows – An Institutional View. Version vom 10. August 2022.

21 IMF (2013) Greece: Ex Post Evaluation of Exceptional Access under 2010 Stand-By Arangement. Siehe: https://www.imf.org/external/pubs/ft/scr/2013/cr13156.pdf.

22 Lin, Justin (2011) New Structural Economics: A Framework to Rethinking Development, World Bank Research Observer, vol. 26, S. 193-221.

23 Fricke, Thomas et al. (2023) Mapping the State of a Shifting Paradigm, Forum New Economy

24 Siehe etwa OECD (2020) How's Life? 2020 : Measuring Well-being | How's Life? : Measuring Well-being | OECD iLibrary (oecd-ilibrary.org).

25 Siehe Europäische Kommission (2020) Eine neue Industriestrategie für EuropaEUR-Lex - 52020DC0102 - EN - EUR-Lex (europa.eu).

26 Kleinheyer, Marius (2023) Währungsbürger oder Währungsuntertan? Flossbach von Storch Research Institute.

27 Der heilige Thomas Morus verteidigte sich mit diesen Worten in dem Prozess gegen ihn, weil er Heinrich VIII. nicht als Anführer der römisch-katholischen Kirche von England akzeptierte.

28 Siehe Mayer, Thomas (2023) op.cit.

29 Schuknecht, Ludger (2022) Debt Sustainability – A Global Perspective, Cambridge University Press.

30 Schuknecht, Ludger (2022) op.cit. Dazu auch Mayer, Thomas und Gunther Schnabl (2023) How to escape from the debt trap: Lessons from the past. The World Economy Vol.46, Issue 4, pp.991-1016 und Mayer, Thomas (2023) Long-Term Strategies to Reduce Public Debt. The Economists’ Voice, May 2023. from a Historical Perspective

31 Tofall, Norbert (2022) Populismus und Inflation. Flossbach von Storch Research Institute.

32 Siehe etwa: https://www.focus.de/politik/deutschland/vor-allem-bei-regierung-und-kanzler-trendbarometer-zeigt-starken-vertrauenseinbruch-gegenueber-der-politik_id_182049196.html oder https://www.welt.de/politik/deutschland/article243009749/Deutschland-Vertrauen-in-alle-politischen-Institutionen-sinkt-drastisch.html

33 Böhm-Bawerk, op.cit, S. 207.

34 Helmstädter, Ernst (2002) Die Geschichte der Nationalökonomie als Geschichte ihres Fortschritts. In: Issing, O. (Hrsg.) Geschichte der Nationalökonomie. Vahlen, München

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