04.05.2021 - Kommentare

Wirtschaft opfern, Menschenleben retten?

von Pablo Duarte, Philipp Immenkötter


Die Aktion #allesdichtmachen hat heftige Kontroversen ausgelöst. Kritiker haben den Schauspielern Menschenverachtung vorgeworfen, weil sie sich über die Lockdowns mokiert haben. Aus ökonomischer Sicht kann man die Aktion jedoch als Antwort auf die ineffiziente deutsche Pandemiepolitik interpretieren, die mit pauschalen Lockdowns hohe wirtschaftliche Kosten verursacht hat.

Bei den Lockdowns des vergangenen Jahres wurden weltweit bürgerliche Freiheiten eingeschränkt, um die Coronapandemie einzudämmen. Eine Reduzierung zwischenmenschlicher Kontakte sollte Infektionsketten unterbrechen, eine Überlastung des Gesundheitssystems verhindern und schlussendlich Menschenleben retten. Der staatliche Eingriff hatte zur Folge, dass Menschen am Wirtschaften und Konsumieren gehindert werden, was sich im Aggregat in einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) widerspiegelt. Dahinter verbirgt sich die Annahme, dass es einen Trade-off zwischen Schutz von Menschenleben einerseits und Schutz der Wirtschaft andererseits gebe. Trifft diese Annahme zu?

Die Übersterblichkeit, das Verhältnis der zu beklagenden Todesfälle eines Jahres zum Durchschnitt der letzten fünf Jahre, zeigt die tödlichen Folgen der Coronapandemie auf.1 Am höchsten fiel die Übersterblichkeit auf dem amerikanischen Kontinent aus (Brasilien +22,3 %, USA +19,5 %). In Norwegen (-0,6 %) und Neuseeland (-0,5 %) kamen hingegen weniger Menschen als in den Vorjahren ums Leben. Deutschland gehört selbst noch mit einer Übersterblichkeit von +4,8 % zu den weniger stark betroffenen Ländern.

Der höchste wirtschaftliche Verlust gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) trat in Europa mit einem Rückgang von ‑10,8 % in Spanien und ‑9,8 % im Vereinigten Königreich auf. Taiwan konnte hingegen sogar ein Wirtschaftswachstum um +3,1 % vorweisen. Die deutsche Wirtschaft ließ im gleichen Zeitraum um -5,3 % nach. Hinter den wirtschaftlichen Einbußen stehen Einzelschicksale, welche durch den Lockdown und dessen direkte und indirekte Folgen physisch, psychisch und finanziell belastet werden. Die Aktion #alledichtmachen zeigt dies bei einer sehr hart betroffenen Berufsgruppen.

Nach dem Narrativ des wirtschaftlichen und sozialen Opfers zur Reduzierung der Übersterblichkeit wäre zu erwarten, dass die Übersterblichkeit mit Höhe der wirtschaftlichen Kosten sinkt. Abbildung 1 stellt den Rückgang des BIPs (horizontale Achse) ins Verhältnis zur Übersterblichkeit (vertikale Achse). Je weiter rechts ein Land liegt, desto höher waren die wirtschaftlichen und sozialen Kosten. Je höher es liegt, umso größer fiel die Übersterblichkeit aus.

Im internationalen Vergleich ist ein inverser Zusammenhang, der den „Trade-off“ anzeigen würde, nicht zu sehen. Eine bedeutende Anzahl an Länder ist entgegen des Narrativs oben rechts (bspw. Italien, Vereinigtes Königreich und Spanien) bzw. unten links (bspw. Taiwan, Neuseeland und Australien) vorzufinden. Die Länder oben rechts weisen hohe wirtschaftliche und soziale Kosten, aber auch eine hohe Übersterblichkeit auf. Durch das Opfer konnte hier der Verlust von Menschenleben nicht vermieden werden. Die Länder unten links blieben von beidem verschont und konnten sich sowohl an niedrigen wirtschaftlichen und sozialen Kosten als auch an einer niedrigen Übersterblichkeit erfreuen.

Ein Blick von oben auf die Punktewolke deutet tendenziell auf einen positiven Zusammenhang zwischen wirtschaftlichen Kosten und Übersterblichkeit hin.2 Dies stände für das entgegengesetzte Narrativ, dass jegliche Art von Lockdowns mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen keine effektive Maßnahme ist, um die Übersterblichkeit in einem Land zu verhindern. Es stellt sich die Frage, warum man den erwarteten negativen Trade-off im Ländervergleich nicht feststellen kann.

Macht der Entwicklungsstand den Unterschied?

Die Unterschiede im Entwicklungsstand der Länder könnten sowohl die Variation der Übersterblichkeit als auch des BIP-Rückgangs im Jahr 2020 erklären. Einerseits geht ein geringer Entwicklungsstand eines Landes meist mit einer schlechteren medizinischen Versorgung einher, so dass im Fall des Ausbruchs einer Infektionskrankheit die Kapazität eines Gesundheitssystems schnell ausgeschöpft wird, was die Übersterblichkeit treibt. Auf der anderen Seite haben Lockdowns bei einem geringen Entwicklungsstand eines Landes einen stärkeren Effekt auf das BIP, weil die ärmeren Länder fragilere Wirtschaftsstrukturen besitzen (Tourismus vs. Industrie) und weniger verbreitete Sozialsysteme haben, die die Einkommensverluste kompensieren können. Es könnte also sein, dass der oben beobachtete Zusammenhang hoher BIP-Verluste und hoher Übersterblichkeit hauptsächlich die Unterschiede im Entwicklungsstand der Länder widerspiegelt. Würde man die Unterschiede im Entwicklungsstand bereinigen, könnte man womöglich doch den inversen Zusammenhang der Lockdown-Narrative dokumentieren.

Abbildung 2 zeigt den Zusammenhang zwischen Übersterblichkeit und BIP-Verlust, abzüglich der Differenzen im Entwicklungsstand gemessen am Pro-Kopf-Einkommen nach Kaufkraftparität im Jahr 2018.3 Der erwartete, eingangs beschriebene inverse Zusammenhang ist auch hier nicht zu erkennen. Der konträre positive Zusammenhang ist hingegen gleich stark geblieben.4

Weitere Faktoren müssen berücksichtigt werden

Dass auch bei einer statistischen Bereinigung um den Entwicklungsstand ein positiver Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Verlust und Übersterblichkeit besteht, deutet auf weitere Faktoren hin, die zur möglichen Erklärung eines positiven Zusammenhangs betrachtet werden müssen. Zum einen wirken sich konkrete politische Entscheidungen auf die wirtschaftlichen Kosten und auf die Übersterblichkeit aus. Zum anderen sind hierunter Rahmenbedingungen zu finden, auf welche Entscheidungsträger keinen Einfluss haben können.

Aus epidemiologischer Sicht spielen unter anderem die ersten Übertragungsketten in einem Land sowie Timing, Dauer und Intensität der darauffolgenden politischen Reaktionen eine bedeutende Rolle, was den weiteren Verlauf der Pandemie und die resultierende Anzahl an Todesfälle und wirtschaftliche Kosten betrifft.5 Deutlich wird dies an den vergleichbaren wirtschaftlichen Kosten, die durch Lockdowns in Frankreich und Italien verursacht wurden. Ein präventiver Lockdown in Frankreich führte zu einer moderaten Übersterblichkeit, während in Italien der Lockdown eine Reaktion auf hohe Fallzahlen darstellte, und eine hohe Übersterblichkeit zu beklagen war.

Lange Lockdowns sind auch mit hohen sozialen Kosten verbunden. Lockdownmüdigkeit könnte daher auch zur Erklärung des beobachteten positiven Zusammenhangs beitragen. Mit Dauer und Intensität der Lockdowns sinkt die Akzeptanz der Maßnahmen seitens der Bevölkerung, die wirtschaftlichen Kosten steigen allerdings weiter an.6

Die Ausgestaltung sonstiger nicht-pharmazeutischer Interventionsmaßnahmen, wie digitale Kontaktverfolgung und das Tragen eines Mundnasenschutzes, haben kaum wirtschaftliche Kosten zur Folge, können aber als effizientere Alternative die Übersterblichkeit abmildern.7,8 Der Vergleich ostasiatischer Länder, Australiens und Neuseelands mit Europa legt den Schluss nahe, dass trotz unterschiedlicher Rahmenbedingungen eine ineffiziente Pandemiebekämpfung zusätzlich zu einer höheren Übersterblichkeit und zu höheren wirtschaftlichen Verlusten beigetragen haben könnte.

Politisch unveränderbare Begebenheiten, wie die Länge der Infektionswege zu vulnerablen Bevölkerungsgruppen (bedingt bspw. durch soziale Strukturen, Wohnverhältnisse, Kultur und Hygienestandards), aber auch klimatische Bedingungen, geographische Begebenheiten wie natürliche Landesgrenzen, und Virusmutationen können die Anfälligkeit eines Landes für eine pandemiebedingte Übersterblichkeit aber auch für die wirtschaftlichen Kosten beeinflussen.9

Zu guter Letzt entstammen statistisch betrachtet alle Länder der „Therapiegruppe“, da entweder in einem Land ein Lockdown verhängt wurde oder Lockdowns in anderen Ländern die Veränderung des eigenen Wirtschaftswachstums beeinflusst haben. Daher ist aus den Daten nicht zu entnehmen, wie sich das Wirtschaftswachstum entwickelt hätte, wären keine Maßnahmen verhängt worden und hätte lediglich die freiwillige Verhaltens- und Konsumveränderung die Übersterblichkeit und Wirtschaftsleistung bestimmt.

Fazit

Im gängigen Wirtschaftsopfer-Narrativ werden Lockdowns ergriffen und negative wirtschaftliche und soziale Folgen in Kauf genommen, um Menschenleben zu schützen. Die Daten sprechen dagegen. Der einfache internationale Vergleich zwischen BIP-Verlust und Übersterblichkeit im Jahr 2020 zeigt keinen Trade-off. Der Zusammenhang zwischen den beiden Größen ist positiv.

Die Verbindung von hoher Übersterblichkeit mit hohen wirtschaftlichen Verlusten können von Umständen abhängen, die Politik und Gesellschaft nicht beeinflussen können. Andererseits kann der positive Zusammenhang auch auf eine ineffiziente Politik zur Vermeidung von Infektionsketten zurückzuführen sein. Während in einigen Ländern Infektionsketten durch Lockdowns durchbrochen werden konnten, liefen anderorts Maßnahmen ins Leere und verursachten unnötige wirtschaftliche und soziale Kosten.

Insofern kann man die Aktion #allesdichtmachen als Antwort auf die mit Lockdowns und hohen wirtschaftlichen Kosten verbundenen Ineffizienz der deutschen Pandemiepolitik interpretieren. Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft Wirtschaft und Gesellschaft nicht mehr durch Lockdowns belastet werden, da durch Impffortschritte ein hinreichender Schutz vor einer Übersterblichkeit erreicht werden kann.


1 Eine Diskussion der Kennzahl „Übersterblichkeit“ ist in Immenkötter (2020) sowie bei Our World in Data zu finden. Die Anzahl positiv getesteter und verstorbener Personen beschreibt den Einfluss der Pandemie auf Menschenleben nur unvollständig, da unter anderem weltweit nicht alle Covid-19 bedingten Todesfälle erfasst werden, aber auch durch Lockdowns Menschenleben zu beklagen sein können.

2 Eine einfache lineare Regression zeigt eine statistisch signifikante positive Korrelation von 0,87 (p-Wert 0,015).

3 Die dargestellten Werte repräsentieren die Residuen einer linearen Regression des BIP-Rückgangs auf das BIP-pro-Kopf sowie die Residuen der einer Regression der Übersterblichkeit auf das BIP-pro-Kopf. Die entsprechenden Residuen können jeweils als BIP-Verlust abzüglich des Effekts des Entwicklungsstandes, bzw. Übersterblichkeit abzüglich des Effekts des Entwicklungsstandes interpretiert werden.

4 Die Korrelation zwischen den beiden Variablen beträgt 0,83 im Vergleich zu 0,87 oben.

5 Siehe bspw. Oraby et. al (2021) und Caulkins et al (2021).

6 Siehe hierzu Goldstein et al. (2021).

7 Siehe hierzu Ferretti et al (2020).

8 Siehe hierzu beispielsweise de Haas, Götz, Heim (2021) und Peeples (2021)

9 Siehe bspw. für Wohnverhältnisse Bayer und Kuhn (2020).

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