31.01.2023 - Studien
„Die Werte, die unsere Entscheidungsfindung leiten, sind in unserem Credo dargelegt. Einfach ausgedrückt: Unser Credo fordert uns heraus, die Bedürfnisse und das Wohlergehen der Menschen, denen wir dienen, an erste Stelle zu setzen.“ Dieses Werteversprechen prägte Robert Wood Johnson, Mitgründer eines bekannten Pharma- und Konsumgüterkonzerns. Er glaubte, „dass unsere erste Verantwortung den Patienten, Ärzten und Krankenschwestern, Müttern und Vätern und allen anderen gilt, die unsere Produkte und Dienstleistungen nutzen. Um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, muss alles, was wir tun, von hoher Qualität sein. Wir müssen ständig danach streben, Wert zu schaffen, unsere Kosten zu senken und angemessene Preise aufrechtzuerhalten“.
Zudem trage sein Unternehmen „Verantwortung gegenüber unseren Mitarbeitern, die weltweit für uns arbeiten. Wir müssen ein integratives Arbeitsumfeld schaffen, in dem jede Person als Individuum betrachtet werden muss. Wir müssen ihre Vielfalt und Würde respektieren und ihre Verdienste anerkennen“. Und „wir müssen das Eigentum, das wir nutzen dürfen, in gutem Zustand halten und dabei die Umwelt und die natürlichen Ressourcen schützen“.
Eine solche Agenda mag vielen in den vergangenen Monaten oder Jahren in ähnlicher Form schon untergekommen sein. Nicht wenige Unternehmen stellen neben schnöden Ertragszahlen oder der Auflistung von Vermögen und Kapitalquellen inzwischen ihr Engagement für Natur und Gesellschaft in den Vordergrund. Ob aus eigenem Antrieb oder auf politischen Druck hin, das sei dahingestellt.
Doch das Credo, das Robert Wood Johnson für sein Unternehmen Johnson & Johnson formulierte, entsprang nicht einer neuen politischen Agenda, oder der grün-sozialen Welle dieses Jahrhunderts, sondern es stammt bereits aus dem Jahr 1943; also lange bevor jemand etwas von „Corporate Social Responsibility“ (CSR) oder „Environmental, Social and Governance“ (ESG) gehört hatte.
Johnson & Johnson hat seine eigenen hohen Ansprüche jedoch nicht immer erfüllen können – zumindest gemessen an milliardenschweren Strafzahlungen, die das Unternehmen in den vergangenen Jahren nach Klagen wegen angeblich erheblicher Nebenwirkungen einiger seiner Medikamente hat zahlen müssen.
Das belegt zum einen, dass Anspruch und Wirklichkeit nicht so einfach in Einklang zu bringen sind. Und es zeigt zum anderen, dass Aktionäre und andere Stakeholder selbst genau hinschauen sollten, inwieweit Unternehmen ihre Maßstäbe auch tatsächlich leben.
Johnson & Johnson kommt heute dennoch zupass, ein first mover in Sachen CSR gewesen zu sein. So weist der im elitären Dow Jones Industrial Average notierte Konzern in seinem „ESG Disclosure Index“ explizit auf das Credo seines Mitgründers hin – und zwar im Zusammenhang mit aktuellen Anforderungen, die der Norwegische Staatsfonds in seinen individuellen Leitlinien an Unternehmen weltweit stellt. Die Norweger sind mit ihrem umgerechnet derzeit rund 1,2 Billionen Euro schweren Fonds einer der größten Aktieninvestoren der Welt – und können daher eigene Regeln setzen.
Während Staatsfonds oder andere Groß-Investoren genug Kapital im Rücken haben, um von Unternehmen Informationen einzufordern, die über den üblichen Geschäftsbericht hinausgehen, stößt die Taxonomie der Europäischen Union (EU) nun tief in die ESG-Berichterstattung fast aller Unternehmen hinein. Die EU möchte verpflichtend eine Bewertung „ökologischer Nachhaltigkeit“ von wirtschaftlichen Aktivitäten etablieren gültig für alle Firmen, die etwas größer sind als ein lokaler Betrieb mit vielleicht ein paar Dutzend Mitarbeitern.
So hat Ende November 2022 der Rat der EU eine entscheidende Richtlinie über die Nachhaltigkeitsberichterstattung gebilligt. Diese Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) ist seit dem 5. Januar 2023 in Kraft. Innerhalb von 18 Monaten müssen die EU-Mitgliedstaaten diese Direktive nun in nationales Recht umsetzen.
Dieser Entschluss hat Tragweite, und zwar global.
Unternehmen werden damit verpflichtet, bald ein detailliertes ESG-Reporting zu veröffentlichen. „Durch die neuen Vorschriften werden mehr Unternehmen für ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft rechenschaftspflichtig sein und zu einem Wirtschaftsmodell hingeführt, das den Menschen und der Umwelt zugutekommt. Daten über den ökologischen und gesellschaftlichen Fußabdruck werden für alle, die sich dafür interessieren, öffentlich zugänglich sein“, so der tschechische Industrie- und Handelsminister Jozef Síkela – Tschechien hatte bis Ende 2022 den EU-Ratsvorsitz inne.1
Für das Jahr 2024 sollen Unternehmen und Finanzinstitute die neue Nachhaltigkeitsberichterstattung erstmals anwenden. Die CSRD ersetzt dabei die bisherige Richtlinie über nichtfinanzielle Berichterstattung von Unternehmen (Non Financial Reporting Directive/NFRD).
Als Ziel ist vorgegeben, neben mehr Transparenz in Sachen sozialer Kultur und Unternehmensführung, detailliert Fortschritte bei der Dekarbonisierung offenzulegen: Stichwort 1,5-Grad-Ziel gemäß dem Pariser Klima-Abkommen. Dafür gibt es einen dreistufigen Plan. Die CSRD gilt zunächst für Unternehmen, die bereits der NFRD unterliegen.
Mit der NFRD hatte die EU zum 1. Januar 2017 Berichtspflichten für „Unternehmen von öffentlichem Interesse“ eingeführt. Seither sind Unternehmen, Banken und Versicherungsgesellschaften mit mehr als 500 Beschäftigten verpflichtet, „transparentes und verantwortungsvolles Geschäftsgebaren und nachhaltiges Wachstum“ darzulegen und sich „zur sozialen Verantwortung“ zu äußern. „Informationen zur Nachhaltigkeit, wie sozialen und umweltbezogenen Faktoren“ sollen Unternehmen seither offenlegen, „um Gefahren für die Nachhaltigkeit aufzuzeigen und das Vertrauen von Investoren und Verbrauchern zu stärken.“2
Rund 11.700 Unternehmen fallen bisher in diese NFRD-Berichtspflicht, die nun erstmals im Jahr 2025 für das Vorjahr (2024) gemäß den neuen CSRD-Vorgaben berichten sollen. Zu den Stichtagen 1. Januar 2025 und 1. Januar 2026 sollen dann alle Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern, einer Bilanzsumme von 20 Millionen Euro und Jahreserlösen von wenigstens 40 Millionen Euro den CSRD-Berichtspflichten nachkommen, und zwar unabhängig von einer Börsennotierung. Es ist daher möglich, dass ein Unternehmen von der konsolidierten Finanzberichterstattung befreit ist, aber nicht von den Anforderungen, die an das konsolidierte Nachhaltigkeitsreporting gestellt werden.
Da auch (abgesehen von kleinen Firmen) nahezu alle nicht börsennotierten Unternehmen in die Pflicht genommen werden, steht zu vermuten, dass damit Banken Informationen an die Hand gegeben werden sollen, um sie unter staatlicher Bankenaufsicht zur Kreditlenkung im Sinne grüner Politik zwingen zu können. Nicht explizit, aber doch gewollt, könnte die EU Green Finance seitens der Kreditgeber weiter vorantreiben. Unternehmen, die die Anforderungen nicht gut genug erfüllen, könnten also Finanzierungsprobleme bekommen.
Dabei gilt: Die Unternehmen müssen wenigstens zwei der drei genannten Kriterien aus Mitarbeiterzahl, Umsatz und Bilanzsumme erfüllen. Kleine und mittelgroße Unternehmen (KMU) können sich bis 2028 eine Auszeit erlauben. Das sieht ein sogenanntes Opt-out vor.
Schätzungen der EU zufolge dürfte sich am Ende die Zahl der berichtspflichtigen Unternehmen deutlich mehr als vervierfacht haben. In Deutschland allein steigt die Zahl Erwartungen des DRSC (Deutsches Rechnungslegungs Standards Committee) nach von rund 550 auf um die 15.000 Unternehmen. Zudem erfasst die CSRD nicht-europäische Unternehmen, die in der EU einen Nettoumsatz von 150 Millionen Euro erzielen und wenigstens eine Tochtergesellschaft oder Niederlassung in der EU haben.
Nebenbei könnte das in der Theorie im besten Fall dem Wildwuchs an Berichten, die dem Themakomplex ESG zugeordnet sind, Einhalt gebieten. Denn viele Unternehmen sind in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, den geneigten Lesern mal mehr, mal weniger umfangreichen Lesestoff rund um die Themen Klima, Diversität, Sozialschutz und Unternehmensführung zu bieten.
Nicht ganz klar ist dabei jedoch, wo sich denn welche Information verbirgt, sind doch die Berichte, in denen ESG-Informationen zu finden sein sollen, unterschiedlich etikettiert (Tabelle 1).
Wie schon anhand der Label zu erkennen ist, spielen eine ganze Reihe an Nachhaltigkeitsinitiativen in die Berichterstattung hinein. Insgesamt soll es inzwischen mehr als 2000 globale, nationale und regionale Berichtsstandards geben. Hierzulande recht bekannt ist beispielsweise das gerade zum 1. Januar in Kraft getretene Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz.
Die Initiativen sind zum Teil komplementär, zum Teil stehen sie aber auch in Konkurrenz zueinander. Einige sind bereits verpflichtend, andere haben nur einen ausgewählten Anwenderkreis. Auch die Adressaten können sich unterscheiden, beispielsweise in Investoren oder andere Stakeholder.3
Johnson & Johnson etwa verlinkt in seinem Inhaltsverzeichnis über 45 Seiten auf die Anforderungen von sechs Initiativen: der Global Reporting Initiative (GRI), der Culture of Health for Business Framework (COH48), den Sustainability Accounting Standards Board (SASB) Standards, der Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD), der United Nations Global Compact (UNGC) und den Regeln des Norges Bank Investment Management (NBIM).4
Ob dieser Umfang ausreichen wird, um in Sachen Nachhaltigkeitsberichterstattung auch weiterhin in Europa und global bestehen zu können, das lässt sich noch nicht genau sagen.
Doch der Reihe nach.
Wichtig ist zu wissen, dass die neuen CSRD-Regeln der EU mit den von ihnen abgelösten NFRD-Regeln vor allem eines gemein haben: das Konzept der „doppelten Wesentlichkeit“. Demnach müssen Unternehmen nicht nur angeben welche Nachhaltigkeitsaspekte ihr Geschäftsmodell hat, sondern zudem abschätzen, wie sich ihre Geschäfte auf Mensch und Umwelt auswirken.
Um das zu gewährleisten, so zumindest die Idee der EU, kommt es nun zu einem Katalog an Detailregeln. Dafür hat die EFRAG (ursprünglich European Financial Reporting Advisory Group), eine private Vereinigung mit Sitz in Belgien auf die sich die EU regelmäßig bei der technischen Umsetzung von Bilanzrichtlinien stützt, den ersten Satz an finalen Entwürfen für das neue ESG-Reporting an die EU-Kommission übergeben.
Diese European Sustainability Reporting Standards (ESRS) umfassen derzeit zwölf Entwürfe (Tabelle 2).
Nach einer Reduzierung sind in diesen Standards vorerst 1144 Angabepflichten innerhalb von 84 Berichtsanforderungen geblieben.5 Berichtspflichtige Unternehmen werden danach angehalten, Nachhaltigkeitsinformationen für das vorangegangene Geschäftsjahr im Lagebericht darzustellen und digital identifizierbar zu machen (Tagging). Die Möglichkeit wie bisher Nachhaltigkeitsberichte gesondert zu veröffentlichen, wird also den Planungen nach nicht mehr bestehen.
Die EU-Kommission könnte nun die ESRS-Entwürfe inhaltlich noch überarbeiten. Spätestens am 30. Juni dieses Jahres sollen sie verabschiedet sein.
Kaum verändert werden dürfte, dass die EU von den Unternehmen genaue Informationen und Kennziffern fordert. Denn ein Ziel ist Vergleichbarkeit. En passant erwartet Brüssel, dass der Zwang zur Transparenz letztendlich die Konzerne in ihren Net-Zero-Anstrengungen motiviert. Fast zwangsläufig kann dies aber nur der Fall sein, wenn Unternehmen solche Bemühungen tatsächlich auch glaubwürdig vertreten können in ihren Berichten.
Auf die nun vorliegenden Standards beziehungsweise Standardentwürfen der EFRAG sollen weitere folgen, so erwartet es beispielsweise die Prüfungs- und Beratungsgesellschaft Deloitte. Ein zweiter Satz an Standards soll demnach Detailregeln für KMU sowie für Nicht-EU-Unternehmen beinhalten. Darauf zeitlich folgend erwarten Experten branchenspezifische Standards.
Mehr oder weniger parallel dazu laufen die Beratungen des International Sustainability Standards Board (ISSB) mit Sitz in Frankfurt. Das ISSB ist ein den eigenen Angaben nach unabhängiges, in jedem Fall aber privatwirtschaftliches Gremium, das die IFRS Sustainability Disclosure Standards (IFRS SDS) entwickelt und verabschiedet unter dem Dach der IFRS-Stiftung.
Unter der Stiftung befindet sich wiederum auch das International Accounting Standards Board (IASB), das sich um die bekannten International Financial Reporting Standards (IFRS) kümmert. Die IFRS sind von Unternehmen angewendete Bilanzregeln in mehr als 160 Ländern. In der EU gelten die IFRS für alle kapitalmarktorientierten Unternehmen für den Konzernabschluss; sie werden auch darüber hinaus von zahlreichen Unternehmen freiwillig angewendet.
Auf den IFRS SDS, also diesen weiteren Regeln für die Nachhaltigkeitsberichterstattung, sollen nationale und regionale Standards aufsetzen können. In das Regelwerk will das ISSB bereits bestehende internationale ESG-Standards integrieren.
Dazu hat die IFRS-Stiftung inzwischen auch das Sustainability Accounting Standards Board (SASB) unter die Fittiche genommen. Das SASB ist eine nicht-kommerzielle Organisation, die branchenspezifische Standards für die Anerkennung und Offenlegung „wesentlicher“ ökologischer, sozialer und Governance-Auswirkungen für in erster Linie US-amerikanische Aktiengesellschaften entwickelt hat. Aber auch die Deutsche Börse AG beispielsweise greift seit dem Berichtsjahr 2021 auf die SASB zurück.
Das SASB hat Regelwerke für elf Sektoren und deren 77 Branchen entworfen. Diese sollen nun Basis für die neuen IFRS SDS sein.
Ziel der IFRS SDS ist eine globale Anerkennung, wofür insbesondere die US-Finanzaufsicht SEC (United States Securities and Exchange Commission) mit ins Boot geholt werden müsste. Die USA sind vergleichsweise zurückhaltend, was Vorschriften zur Thementriade ESG betrifft.
Eine eigenständige obligatorische Nachhaltigkeitsberichterstattung gibt es bisher nicht. Die SEC verlangt von den Unternehmen lediglich, dass sie für Investoren „wesentliche Informationen zu ESG-bezogenen Risiken“ bereitstellen.
Die Strategie zur freiwilligen Veröffentlichung funktioniert gut. Laut dem in New York ansässigen Governance & Accountability Institute publizierten 92 Prozent der S&P-500-Unternehmen für das Geschäftsjahr 2020 Nachhaltigkeitsberichte.
Der durchschnittliche Umfang der Reports war so divers wie die US-Unternehmenslandschaft. Einer Untersuchung der Harvard Universität auf Basis von 200 Nachhaltigkeitsberichten aus dem S&P 500 zufolge lag der durchschnittliche Umfang bei 70 Seiten, wobei die Spanne von 12 bis zu 243 Seiten reichte.6
Obwohl sich Nachhaltigkeitsberichterstattung freiwillig schon durchgesetzt hat (man mag vermuten, auch auf Investoren- und gesellschaftlichen Druck hin), verabschiedete im Juni 2021 das US-Repräsentantenhaus ein Gesetz mit dem Titel ESG Disclosure Simplification Act.7
Diese Gesetzgebung würde mehrere ESG-bezogene Berichte für börsennotierte Unternehmen in ihren SEC-Veröffentlichungen zur Pflicht machen. Allerdings steht dafür die Zustimmung des US-Senats noch aus.
Unabhängig vom Simplification Act geht es auch in den USA zunehmend in Richtung einer obligatorischen Nachhaltigkeitsberichterstattung, nachdem die SEC ihrerseits eine entsprechende Verordnung bezogen auf Treibhausgasemissionen entworfen hat.
Diese Emissionen unterteilt das meistgenutzte internationale Berechnungstool, das Greenhouse-Gas-Protokoll (GHG-Protokoll), in drei Kategorien oder „Scopes“ (Grafik 1).
Scope 1 soll die direkte Freisetzung klimaschädlicher Gase im eigenen Unternehmen erfassen. Scope 2 erfasst zusätzlich die indirekte Freisetzung klimaschädlicher Gase von Energielieferanten.
In der Diskussion umstritten ist Scope 3. Hier sollen auch die indirekte Freisetzung klimaschädlicher Gase in vor- und nachgelagerten Lieferketten erfasst werden. Sicherlich kein leichtes Unterfangen: Allein die Technical Guidance for Calculating Scope 3 Emissions des GHG ist ein Leitfaden über 152 Seiten.
Die SEC-Verordnung würde von den in den USA börsennotierten Unternehmen verlangen, Scope-1- und Scope-2-Emissionen offen zu legen, einschließlich einer Prüfungspflicht. Darüber hinaus wären Unternehmen verpflichtet auch Emissionen aus ihren Wertschöpfungskette (Scope 3) offenzulegen, wenn diese wesentlich sind, oder wenn Unternehmen Emissionsziele verfolgen, die Scope 3 einschließen.
Kritiker befürchten unabhängig vom grundsätzlichen Konzept Mehrfachzählungen bei Scope 3. Denn ist ein Zulieferer ebenfalls berichtspflichtig, was recht häufig der Fall sein dürfte, dann würden dessen Emissionen wenigstens zweimal erfasst. Da Unternehmen untereinander zahlreiche Kreuz- und Querverbindungen haben, liegt also die Gefahr auf der Hand, dass in der Gesamtschau Emissionen additiv erfasst und der Ausstoß von Treibhausgasen überzeichnet werden könnten.
In Europa ist diese Gefahr schon real. Die Scope-3-Emissionen sollen Unternehmen demnächst jährlich veröffentlichen; eine Neu-Kalkulation ist alle drei Jahre vorgesehen, so sehen es die ESRS-Entwürfe der EFRAG vor.
Auf was sich Unternehmen und am Ende die Nutzer von Geschäftsberichten werden einlassen müssen, das zeigen die bisher vorliegenden Entwürfe der ESRS. So sollen Unternehmen mit Szenario-Analysen arbeiten und benennen, welche Klimaveränderungen ihre Geschäfte auslösen, oder wie diese Veränderungen ihre Geschäfte beeinflussen könnten.
Allgemein ist etwa gefordert den Gesamtenergieverbrauch eines Unternehmens in absoluten Zahlen, die Verbesserung der Energieeffizienz, Kohle-, Öl- und Gasaktivitäten und den Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergiemix anzugeben. Bei Geschäften „in Sektoren mit hohen Klimaauswirkungen“ sollen Unternehmen den Gesamtenergieverbrauch pro Nettoumsatz ermitteln. Dazu kommt etwa die Offenlegung der Treibhausgas-(GHG) Emissionsintensität, wiederum gemessen am Nettoumsatz.
Den Abbau und die Speicherung von Treibhausgasen aus eigenen Tätigkeiten und der vor- und nachgelagerten Wertschöpfungskette sollen Unternehmen in metrischen Tonnen Co2-Äquivalenten angeben. Dazu soll es Angaben auch für die Menge an GHG-Reduzierung geben oder zu deren Abbau aus Klimaschutzprojekten außerhalb der Wertschöpfungskette, die ein Unternehmen beispielsweise mit dem Kauf von Emissionsgutschriften initiiert hat.
Zu messen sind die „potenziellen finanziellen Auswirkungen wesentlicher physischer Risiken“ und „die potenziellen finanziellen Auswirkungen von wesentlichen Übergangsrisiken“. Zudem sollen Unternehmen ermitteln, wie sie möglicherweise „wesentliche klimabezogene Chancen“ nutzen zu können.
So sieht es neben zahlreichen anderen Vorschriften der ERSR-Entwurf E1 Climate change vor.
Klimabedingte physische Risiken sind dabei als Risiken definiert, „die aus den physischen Auswirkungen des Klimawandels entstehen. Sie umfassen typischerweise akute physische Risiken, die sich aus bestimmten Gefahren ergeben, insbesondere aus wetterbedingten Ereignissen wie Stürmen, Überschwemmungen, Bränden oder Hitzewellen, und chronische physische Risiken, die sich aus längerfristigen Veränderungen des Klimas ergeben, wie Temperaturveränderungen, Anstieg des Meeresspiegels, geringere Wasserverfügbarkeit, Verlust der biologischen Vielfalt und Veränderungen der Produktivität von Land und Boden“.
Unternehmen müssen zudem „kurz“ erläutern, wie die verwendeten Klimaszenarien mit den kritischen klimabezogenen Annahmen in ihren Finanzberichten vereinbar sind. Und, wichtig zu bemerken: Diese Szenarien und Szenario-Rechnungen sowie ihre Quellen sollen mit state-of-the-art science, dem Stand der Wissenschaft also, übereinstimmen.8
Eine beispielhafte Übersicht sieht laut dem Standard wie folgt aus (Grafik 2).
Wie all diese Daten und ihre potenziellen Auswirkungen auf Erderwärmung und den finanziellen Ergebnissen von Unternehmen valide erfasst und verarbeitet werden können, ist jedoch unbekannt. In den ESRS selbst wird eingeräumt, dass es derzeit „keine allgemein anerkannte Methode“ gebe, „um zu bewerten oder zu messen, wie wesentliche physische Risiken und Übergangsrisiken die künftige Finanzlage des Unternehmens beeinflussen können“.
Und die Offenlegung dieser Auswirkungen hänge „von der internen Methodik des Unternehmens und der Ausübung eines Ermessensspielraums bei der Bestimmung der Inputs und der Annahmen“ ab.
Was für die Vorgaben für Climate change gilt, das darf sicher auch bei den Regeln für Business conduct gelten. Hier werden Unternehmen beispielsweise aufgefordert, Lobbying offenzulegen. Fragt sich, wo genau Lobbying anfängt, und wo es aufhört.
Leichter dürften sich Manager damit tun zu unterzeichnen, dass Unternehmen die Menschenrechte einhalten. Auch Angaben zur Diversität im Unternehmen, zu Hautfarbe oder Geschlecht beispielsweise, dürften keine Herausforderung darstellen.
Doch wenn Öl- und Gasunternehmen über Reserven in den Konfliktgebieten berichten sollen, oder solchen in der Nähe von „Land indigener Bevölkerung“, dann dürfte es Abgrenzungsprobleme geben. Solche Angaben fordern wiederum die SASB, die ja Grundlage der IFRS-SDS-Regeln sein sollen.
Das Problem der IFRS SDS: Sie haben einen Investorenfokus und weniger die „doppelte Wesentlichkeit“ im Blick. Zwar haben die bisherigen Entwürfe der ESRS und der IFRS SDS (hier liegen Entwurf S1 und Entwurf S2 vor) Gemeinsamkeiten, beispielsweise in dem sie den Rahmen der Task Force on Climate-Related Financial Disclosures mit berücksichtigen.
Aber die ESRS gehen über die IFRS SDS hinaus. Erstere sind jedoch in jedem Fall bei Unternehmen bald Pflicht. Trotz Konsultationen zwischen den jeweiligen Standardsetzern besteht die Gefahr, dass es absehbar wenigstens zwei umfangreiche Regelwerke für die Nachhaltigkeitsberichterstattung geben wird, die für Unternehmen und ihre Adressaten richtungsweisenden Charakter haben beziehungsweise haben sollen.
Nach Empfehlungen des ISSB sollen aber die IFRS SDS beispielweise eine Ausnahmeregelung einführen, die es Unternehmen in begrenzten Fällen erlauben würde, sensible, ihre Geschäfte betreffende Informationen über Nachhaltigkeit auszuschließen. Beispielhaft wird die Markteinführung eines neuen „nachhaltigen Produkts“ angeführt, dass eine solche Ausnahme darstellen könnte.
Noch ist unklar, wann die IFRS-SDS-Regeln in Kraft treten werden. Dazu könnten die USA noch zusätzliche Akzente in Sachen ESG setzen. Der Mehraufwand läge dann nicht nur bei den Unternehmen, sondern selbstverständlich auch bei den Adressaten.
Grundsätzlich gilt zu beachten, dass selbst die klassischen IFRS längst nicht zu Ende entwickelt sind, sondern im Gegenteil große Lücken aufweisen. So hängen die Regeln bei der Erfassung von immateriellen Vermögensgütern der ökonomischen Realität vieler Unternehmen weit hinterher.9
Zudem fehlt es den IFRS (und den US Generally Accepted Accounting Principles/US-GAAP) an validen Vorgaben für die Gewinn- und Verlustrechnung. Deshalb operieren Unternehmen gerne mit non-IFRS- (oder non-GAAP-) Zahlen. Eine Gefahr, die sicher auch bei der neuen Naturalkapitalbilanzierung besteht. Da die CSRD-Berichterstattung ja künftig ausschließlich im Lagebericht erfolgen soll – geplant in einem eigenen Abschnitt – unterliegt sie einer externen Prüfungspflicht. Diese Aufgabe dürfte wohl regelmäßig der Abschlussprüfer übernehmen, der bisher jeweils schon den Geschäftsbericht testiert.
Alternativ könnte der Markt für Nachhaltigkeitszertifizierer wachsen, deren Unternehmungen sicher gerne Brief und Siegel geben, gegen eine auskömmliche Gebühr, versteht sich. Allerdings könnte das wiederum selbst Probleme bei der Unternehmensführung geben, in Abstimmung zwischen Aufsichtsrat und Vorstand etwa bei der Frage welche Siegel denn den Stakeholdern als tauglich präsentiert werden dürfen.
Ganz zweifellos stellt sich die Frage nach der Qualifikation der externen Prüfer zum Themenkomplex ESG. Schon die üblichen, bisherigen Anforderungen an den Lagebericht erfüllen Unternehmen gerade in Krisen zum Teil nicht.10 Dennoch werden Lageberichte regelmäßig von den Prüfern durchgewunken. Bei den von der Ende 2021 eingestellten Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung untersuchten Geschäftsberichten waren Lageberichte regelmäßig eine der häufigsten Fehlerquellen.11
Fraglich ist, inwieweit Prüfer beispielsweise nachvollziehen können, ob ein Unternehmen je selbst erwirtschaftetem Euro insgesamt gut vier Euro „für die Gesellschaft erwirtschaftet“, wie es ein großer europäischer Chemiekonzern innerhalb seiner Nachhaltigkeitsberichterstattung für sich in Anspruch nimmt.
Lässt sich wirklich exakt nachvollziehen, ob ein global tätiges Goldminen-Unternehmen wie behauptet 79 Prozent seines Wassers recycelt und wiederbenutzt?
Und wie das mit den Schadstoffemissionen bei den Produkten der Automobilindustrie im Labor, also auf dem Papier, und in der Praxis aussieht, darüber ist in den vergangenen Jahren ausreichend berichtet worden.
Hinzu kommt, dass die Vergleichbarkeit von Unternehmen ziemlich sicher ein hehrer Wunsch bleiben wird. Das zeigen schon die großen Mängel von ESG-Ratings.12
„Ich glaube, dass der Druck der Investoren einer der stärksten Motivatoren für das Handeln der Unternehmen ist", sagte die ehemalige Präsidentin der Colorado Oil & Gas Association, Tisha Schuller, im vergangenen Dezember einem Bericht von S&P Global zufolge.
Robert Wood Johnson würde wohl zustimmen: „Unsere letzte Verantwortung gilt unseren Aktionären. Wir müssen mit neuen Ideen experimentieren. Es muss geforscht, innovative Programme entwickelt, Investitionen in die Zukunft getätigt und Fehler bezahlt werden.“
Und vielleicht gerade deshalb geht der erste prominente Großinvestor nun wieder eigene Wege. So hat der US-Vermögensverwalter Vanguard im Dezember die Initiative für Klimaneutralität Net Zero Asset Managers öffentlichkeitswirksam verlassen. Der nach eigenen Angaben zweitgrößte Vermögensverwalter der Welt mit acht Billionen Dollar an Assets under Management erklärte, er wolle mit dem Austritt seine Unabhängigkeit wahren und könne allein die Interessen seiner Anleger besser durchsetzen. Zudem könne eine Vielzahl von solchen Initiativen eher Verwirrung stiften.
Noch mehr Unternehmen sind bald verpflichtet, Rechenschaft über ihr Tun abzulegen, was den Themenkomplex ESG betrifft. Insbesondere werden sie aufgefordert sein, ihren individuellen Pfad zur Dekarbonisierung transparent im Sinne der ESRS und möglicherweise nach einem davon abweichenden Schema der IFRS SDS offenzulegen.
Apostrophiert wird ein globaler Standard. Fakt ist, dass selbst jahrzehntelange Bemühungen global einheitliche Bilanzregeln zumindest für kapitalmarktorientierte Unternehmen zu etablieren, gescheitert sind. Ob dies nun für ESG-Regeln gelingt, ist aufgrund dieser Erfahrung anzuzweifeln.
Ob die mit den Regeln verbundene Hoffnung erfüllt werden wird, Greenwashing einzudämmen, ist fraglich. Denn extern sind die umfangreichen Annahmen und Angaben, die Unternehmen zu erfüllen haben, höchstens anekdotisch überprüfbar.
Und inwieweit eine erzwungene Transparenz dazu dienlich ist, das politisch formulierte 1,5-Grad-Klimaziel besser zu erreichen als auf Basis freiwilliger Offenlegungen, ist ebenfalls zweifelhaft. Unternehmen, die auch bisher schon wenig im Sinn hatten mit Transparenz, werden auch bei dem Themenkomplex ESG in Zukunft kaum glänzen. Zumindest wenn wie bisher Sanktionen eher die Ausnahme bleiben.
Eine freiwillige Offenlegung würde es den Unternehmen ermöglichen, nicht zu mogeln, sondern ehrlicherweise zu benennen, welche Annahmen und darauf basierende Angaben möglicherweise nur sehr grobe Schätzungen sind – oder diese mangels belastbarer Daten überhaupt keinen Informationsgehalt mehr bieten.
Dazu kommt, dass Unternehmen im Kapitel ESG des Lageberichts möglicherweise Risiken verstecken, die Investoren eher an anderer Stelle vermuten.
Ein weiterer information overload in Geschäftsberichten könnte dazu führen, dass Anleger für ihre Investitionen nicht wie gewünscht eine nützlichere Entscheidungsgrundlage vorfinden, sondern eine nutzlosere.
Nun muss niemand davon ausgehen, dass der (meist nur kurzzeitig) angestellte Manager sich immer wie ein ehrbarer Kaufmann verhält. Doch der allgemeine gesellschaftliche und politische Druck sowie die Macht der Investorengelder sollten groß genug sein, um die meisten Unternehmen anzuhalten, gut zu wirtschaften, auch im Sinne eines effizienten, schonenden, sozial gerechten Einsatzes von Ressourcen – so wie es Robert Wood Johnson einst treffend formuliert hat.
2 https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/?uri=celex%3A32014L0095
3 eine Übersicht und Einordnung der Relevanz für deutsche Unternehmen findet sich in einem Aufsatz von Isabel von Keitz, Inge Wulf, Januar 2023, KoR, Seiten 27-38
4 https://healthforhumanityreport.jnj.com/reporting-hub/esg-disclosure-index-pdf
6 https://corpgov.law.harvard.edu/2021/11/02/the-state-of-u-s-sustainability-reporting/
7https://www.congress.gov/congressional-report/117th-congress/house-report/54/1
8 [DRAFT] ESRS E1 Climate Change, Seite 25
9 Christof Schürmann, Wenn greifbares Vermögen in der Bilanz fehlt, März 2022, https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/wenn-greifbares-vermoegen-in-der-bilanz-fehlt/
10 siehe zum Beispiel France Ruhwedel, Thorsten Sellhorn, Julia Lerchenmüller, 2009, Prognoseberichterstattung in Aufschwung und Krise: eine empirische Untersuchung der DAX-Unternehmen
11 siehe zum Beispiel Tätigkeitsbericht 2019, https://www.ey.com/de_de/ifrs-veroeffentlichungen/andere-standards/dpr-taetigkeitsbericht-2019
12 Kai Lehmann, Nachhaltig? Ja…Nein…Vielleicht! Zur mangelnden Vergleichbarkeit von ESG-Ratings, November 2019, https://www.flossbachvonstorch-researchinstitute.com/de/studien/nachhaltig-janeinvielleicht-zur-mangelnden-vergleichbarkeit-von-esg-ratings/
28.11.2019 - Unternehmen
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