25.04.2023 - Studien

Kreative Zerstörung der Ungleichheit

von Agnieszka Gehringer


Oft wird behauptet, technologischer Fortschritt sei ein wesentlicher Treiber einer steigenden Einkommensungleichheit. Die Schere zwischen Arm und Reich steige dadurch, wobei „Arm“ meist mit „Arbeitern“ und „Reich“ mit „Kapitalisten“ assoziiert wird. Die Wechselwirkungen sind jedoch vielfältiger. Während technologischer Fortschritt – durch eine erhöhte Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften – zum Anstieg der personelle Einkommensungleichheit führen mag, kann er jedoch zur Verringerung der funktionalen Einkommensungleichheit (zwischen Arbeit und Kapital) beitragen.

Die gängige Interpretation der steigenden Einkommensungleichheit

Zur Messung der Einkommensverteilung in einer Volkswirtschaft wird üblicherweise der Gini-Index verwendet.1 Dieser ist in Deutschland zwischen 1991 und 2019 nach Angaben der Weltbank tendenziell angestiegen (Abb. 1).

Diese steigende Tendenz beim Gini-Index wird oft als Ergebnis der ungleichheitstreibenden Kraft des technologischen Fortschritts interpretiert. Die Erklärung von mehr Ungleichheit durch technologischen Fortschritt ist verführerisch simpel. Neue Produktionstechnologien führen zum Ersatz von Arbeit durch Kapital. Menschen verlieren ihre Arbeit, weil viele ihrer Aufgaben durch automatisierte Abläufe ersetzt werden könnten. Die Besitzer der Automaten, die Kapitalisten, profitieren.

Auf den ersten Blick mag die Hypothese überzeugend klingen. Es genügt, an den Aufstieg der Kapitalisierung der heutigen Technologie-Riesen am Aktienmarkt zu denken.

Technologischer Fortschritt begünstigt auch Arbeitskräfte

Bei dieser Interpretation wird allerdings vernachlässigt, dass der Gini-Index nur das Endergebnis zeigt, nicht aber wie es zustande gekommen ist.  Um die Wirkung des technologischen Fortschritts auf die Verteilung beurteilen zu können, ist die Unterscheidung zwischen der funktionalen und personellen Einkommensverteilung essenziell.

Mit der funktionalen Einkommensverteilung wird das Volkseinkommen den im Produktionsprozess beteiligten Produktionsfaktoren – Arbeit und Kapital – zugeordnet. So kann die Lohnquote ermittelt werden, welche den Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen misst. Dem gegenüber steht der Einkommensanteil der Kapitalbesitzer.

Die personelle Einkommensverteilung ordnet dagegen das Einkommen den einzelnen Personen zu – unabhängig davon, ob es aus abhängiger Arbeit oder aus dem Kapitalbesitz herkommt.

Technologischer Fortschritt hat erheblichen Einfluss auf die personelle Einkommensverteilung. Insbesondere kommt es aufgrund der qualifikationsintensiven Innovationen (skill-biased technological change) zu Lohnumverteilung zugunsten des Fachpersonals. Die weniger qualifizierten Arbeitskräfte können zwar dabei auch profitieren, wenn die Hochqualifizierten zum Beispiel ihre Nachfrage nach Dienstleistungen der weniger Qualifizierten (Babysitting, Lieferservice oder Entertainment) erhöhen, oder sie höhere Renditen aus ihren Beteiligungen an innovativen Unternehmen erhalten. Dennoch bekommen die Fachkräfte den Löwenanteil des durch Innovationen generierten Einkommens. Das sogenannten College Premium, das den Lohnabstand von qualifizierten zu weniger qualifizierten Arbeitskräften misst, stieg in den USA zwischen 1979 und 1995 um über 25 Prozent.

Der Blick über den Tellerrand hinaus zu den Überlegungen von Joseph Schumpeter zeigt weitere Aspekte der Einkommensumverteilung. Eine Neubewertung des Schumpeter'schen geistigen Erbes zeigt, dass der technologische Fortschritt die Einkommensungleichheit insbesondere durch die Verringerung der Unterschiede in der funktionellen Verteilung der Einkünfte aus Kapitalbesitz und Arbeit beeinflusst. Bei Schumpeter spielen das Unternehmertum und seine Innovationskraft eine essenzielle Rolle. Denn die Einführung von Innovationen, besonders wenn sie radikal sind, entfaltet Kräfte der kreativen Zerstörung, die Teile des vorhandenen, durch die Innovationen obsolet gewordenen Kapitals, vernichten kann:

Nicht nur in jener Epoche jedoch, die die Anfänge dieses sozialen Prozesses noch nicht kannte, sondern auch heute noch ist die Unternehmerfunktion nicht nur das Vehikel fortwährender Umorganisierung der Wirtschaft, sondern auch das Vehikel fortwährender Veränderung der Elemente, aus denen die obern Schichten der Gesellschaft bestehen. Der erfolgreiche Unternehmer steigt sozial, mit ihm die Seinen, denen die Resultate seines Erfolgs eine von persönlichem Tun nicht unmittelbar abhängige Basis geben. Dieses Steigen stellt den wichtigsten Auftrieb in der kapitalistischen Welt dar. Weil es im Weg des Niederkonkurrierens alter Betriebe vor sich geht und damit auch der mit diesen verknüpften Existenzen, so entspricht ihm immer ein Prozeß des Sinkens, der Deklassierung, der Eliminierung.“2

Allein die Oberschichten der Gesellschaft gleichen Gasthöfen, die zwar immer voll von Leuten sind, aber von immer andern (…).“3

Die Aktionäre der etablierten Unternehmen, die von neuen aus den Produktmärkten gedrängt werden, erleiden Verluste, die ihr Vermögen schmälern.4 Der technologische Fortschritt ist daher in der Lage, durch die Angleichung der Vermögensverteilung die Einkommensasymmetrien zwischen Arbeit und Kapital zu verringern:

Nicht nur deshalb also, weil jeder individuelle Unternehmergewinn versiegt und der Mechanismus der Konkurrenzwirtschaft keine dauernden Mehrwerte duldet, vielmehr durch eben jenen Stimulus des Gewinnstrebens vernichtet, der seine treibende Kraft ist; sondern schon deshalb, weil im Normalfall die Dinge so vor sich gehen, daß sich der Erfolg des Unternehmers im Besitz eines Betriebs konkretisiert und dieser Betrieb von den Erben kreislaufmäßig weitergeführt zu werden pflegt, bis ihn neue Unternehmer verdrängen.“5

Die heilende Wirkung der kreativen Zerstörung ist umso stärker, desto radikaler die Innovationen sind und je öfter sie durch „Newcomer“ statt durch etablierte Unternehmen generiert werden. Nach Schumpeter bestehen Innovatoren aus „Leuten, die sich in viel höherm Maß aus den Tiefen rekrutieren als viele unter uns wahrhaben wollen.“6 So war die Entstehung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien sowie Biotechnologien seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in erster Linie das Ergebnis von dynamischen Startup-Gründungen. Man denke nur an Bill Gates, Steve Jobs, Jeff Bezos – oder im 21. Jahrhundert an das Ehepaar Sahin.

Die radikalen Innovationen von frisch gebackenen Unternehmern sind in der Tat das Geheimrezept, mit dem die etablierten und erfahrenen Unternehmer herausgefordert und sogar aus dem Markt verdrängt werden können. Denn der Markteintritt von Innovatoren führt zu einem Anstieg der Marktrivalität und einem Abbau der Markteintrittsbarrieren. Dadurch werden zusätzliche Gewinne abgeschöpft und die Dauer von Monopolrenten der etablierten Unternehmen verkürzt. Die Kürzung der Höhe und der Dauer der Monopolrenten verringert die an die Aktionäre der etablierten Unternehmen gezahlten Dividenden und damit die Einkommensungleichheit.

Schließlich wirkt sich der technologische Fortschritt auch auf die Entlohnung von Arbeit aus. Denn der technologische Fortschritt trägt zur Verbesserung der Arbeitsproduktivität bei:

Gewiß haben die produzierten Produktionsmittel die Fähigkeit, zur Güterproduktion zu dienen. Man kann sogar mit ihnen mehr Güter erzeugen, als ohne sie. Und diese Güter haben auch höhern Wert als jene, die man ohne die produzierten Produktionsmittel erzeugen könnte. Aber dieser höhere Wert muß auch höhern Wert der Produktionswerkzeuge und dieser wiederum höhern Wert der verwendeten Arbeits- und Bodenleistungen zur Folge haben.“7

Dadurch steigen nicht nur die Löhne, sondern auch die Ersparnisse der Arbeitnehmer, die in Kapitalbeteiligungen angelegt werden können. Dies führt nicht nur zu einer breiteren Verteilung von Einkommen, sondern auch von Vermögen.

Dass dieser Mechanismus am Wirken sein könnte, scheint die Entwicklung der Lohnquote in Deutschland zumindest nach der Großen Finanzkrise zu suggerieren. Der Quotient hat sich von 65% im Jahr 2007 auf 71 % zuletzt erhöht (Abb. 2). Bezogen auf den gesamten Zeitraum seit 1991, in dem der Gini-Index ebenfalls gestiegen ist, hat sich die Lohnquote seitwärts entwickelt.

Wenn also die Einkommensungleichheit – gemessen am Gini-Index – in den letzten Dekaden angestiegen ist, bedeutet das nicht einfach, dass die Kapitalisten reicher geworden wären. Durch die Kräfte der kreativen Zerstörung kann technologischer Fortschritt sehr wohl zu mehr anstatt weniger Gleichheit in der funktionalen Einkommensverteilung beitragen.

Die kreative Zerstörung kann zur Heilung jedoch nur dann beitragen, vorausgesetzt sie ist tatsächlich kreativ, erfolgt also durch Innovation. Ohne Innovationen ist die Zerstörung destruktiv. Durch Abschreibung allein wird der ökonomische Wert des in der Vergangenheit akkumulierten Kapitalstocks immer geringer. Mit den Einkünften der Kapitalbesitzer sinken auch die Arbeitslöhne. Es beginnt ein Kampf um die Verteilung von Verlusten, in dem die Kapitalbesitzer versuchen, ihre Verluste auf die Arbeitskräfte abzuwälzen. Karl Marx sprach von ruinöser Konkurrenz und Verelendung des Proletariats. Doch wer diesen Kampf gewinnt, ist in Wirklichkeit unklar.

Andererseits ist die Verlangsamung des Produktivitätswachstums aufgrund eines Mangels an wirksamer Umsetzung von Innovationen seit den 1980er Jahren unbestritten.8 Die Zerstörung war destruktiv statt kreativ, da es ihr an Treibstoff in Form von Innovationen fehlte. Das könnte wiederum erklären, warum sich die Lohnquote im Durchschnitt der letzten drei Jahrzehnten nur seitwärts entwickelt hat.

Treiber der Ungleichheit jenseits des technologischen Fortschritts

Natürlich treiben auch andere Einflüsse die Einkommensungleichheit. Dazu gehören die Globalisierung, die Finanzialisierung der Wirtschaft und die allgegenwertige Inflation. Durch Finanzialisierung – also die Aufblähung des Finanzsektors – werden Finanzrenditen, ohne Schaffung von Realwerten und Innovationen ermöglicht.9 Es kommt zur Konzentration von Finanzvermögen. Durch ihre jahrelange Niedrigzinspolitik haben die Zentralbanken die Bewertung von Finanzaktiva aufgebläht und zu dieser Vermögenskonzentration beigetragen.

Technologischer Fortschritt ist also kein Patentrezept für geringere Ungleichheit. Aber er hilft, sie zu verringern. Das wird leider zu oft übersehen.


1 Zur Berechnung des Gini-Indexes wird die sog. Lorenz-Kurve genutzt. Diese stellt grafisch dar, wie viel Prozent der Einkommensempfänger in einer Volkswirtschaft wie viel Prozent des Volkseinkommens verdienen. Bei einer vollkommenen Gleichverteilung der Einkommen läge die Lorenz-Kurve (welche die tatsächliche Einkommensverteilung misst) genau auf der Diagonalen. Je ungleicher die Einkommensverteilung, desto tiefer hängt die Lorenz-Kurve. Der Gini-Index ergibt sich als Verhältnis zweier Flächen: im Zähler die Fläche zwischen der Diagonalen und der Lorenz-Kurve, im Nenner die Fläche unter der Diagonalen und der X-Achse. Der Index kann einen Wert zwischen 1 (extreme Ungleichverteilung) und 0 (vollkommene Gleichverteilung) annehmen.

2 Schumpeter, J.A., 1911, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin: Dunker & Humblot, 7. Auflage S., 238.

3 Ibid, S. 239. 

4 Antonelli, C. und Gehringer, A., 2017, Technological change, rent and income inequalities: A Schumpeterian approach, Technological Forecasting and Social Change 115, S. 85-98.

5 Schumpeter, J.A., 1911, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Berlin: Dunker & Humblot, 7. Auflage, S. 238.

6 Ibid, S. 239.

7 Ibid, S. 262

8 Siehe Akcigit, U. und Sina, A., 2021, Ten Facts on Declining Business Dynamism and Lessons from Endogenous Growth Theory, American Economic Journal: Macroeconomics 13(1), 257-298, und Antonelli, C. und Gehringer A., 2017, Technological change, rent and income inequalities: A Schumpeterian approach. Technological Forecasting and Social Change 155, 85-98.

9 Mayer, T., 2018, Auf dem „Dritten Weg“ in die „Finanzialisierung“, Flossbach von Storch Research Institute, Vortrag bei der Bundesfachkommission Europäische Finanzmarkt- und Währungspolitik des Wirtschaftsrats der CDU, Berlin, 1. Februar 2018.

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