16.08.2022 - Kommentare

Die Spuren der Inflation in unserer Gesellschaft

von Philipp Immenkötter


Seitdem die Preise in Supermärkten angezogen haben, wird am heimischen Essenstisch und in den sozialen Medien intensiv über Inflation und ihre gesellschaftlichen Folgen diskutiert. Vor nicht allzu langer Zeit war es ein Spezialthema, für das sich lediglich Ökonomen interessiert haben.

Wird über Inflation diskutiert, so bezieht man sich meist auf die Verbraucherpreise. Diese sind seit dem Jahr 2014 im Durchschnitt um zwei Prozent jährlich angestiegen. Ignoriert man den Anstieg der letzten 12 Monate, so lag die Preissteigerung sogar nur bei rund einem Prozent – zu gering, um Spuren in der Gesellschaft zu hinterlassen.

Doch die Verbraucherpreise beschreiben Inflation nicht vollständig. Denn es gab tatsächlich bereits über die letzten acht Jahre hinweg eine ungeheure Inflation. Sie war sogar so stark, dass sie unsere Gesellschaft nachhaltig verändert hat. Jedoch merkte man dies nicht an der Supermarktkasse. Sie herrschte an Kapital- und Immobilienmärkten und wird als Vermögenspreisinflation bezeichnet.

Die Vermögenspreisinflation beschreibt den Preisanstieg von Sachgütern (bspw. Immobilien oder Betriebsvermögen) und Finanzgütern (bspw. Guthaben auf Girokonten oder Fondsanteile). Der Preis solcher Vermögensgüter wird in der Berechnung des Verbraucherpreisindex nicht berücksichtigt.

Seit dem Jahr 2014 sind Vermögenspreise auf und davon galoppiert. Die durchschnittliche jährliche Preissteigerung der Vermögenswerte lag bei sechs Prozent, also deutlich größer als die so viel diskutierte Verbraucherpreisinflation. Im Herbst des vergangenen Jahres lag die Preissteigerung sogar bei zwölf Prozent.1 Ein Niveau, das selbst jüngst bei den Verbraucherpreisen nicht erreicht wurde.

Nun scheint sich zwar in der ersten Jahreshälfte das Bild gedreht zu haben, da die Verbraucherpreisinflation (über sieben Prozent) erstmals wieder oberhalb der Vermögenspreisinflation (drei Prozent) liegt. Dennoch hat die Vermögenspreisinflation der letzten Jahre ihre Spuren in unserer Gesellschaft hinterlassen. Die dadurch entstanden strukturellen Veränderungen werden über Jahrzehnte spürbar, wenn nicht sogar unumkehrbar sein.

Während unter steigenden Verbraucherpreisen in der Regel alle Bevölkerungsgruppen leiden, ist dies bei steigenden Vermögenspreisen anders: Wer Vermögen besitzt, profitiert davon. Allerdings beschreibt die Vermögenspreisinflation auch, um wieviel teurer es geworden ist, Vermögen aufzubauen. Wer also keine Nennenswerte Vermögensgüter besitzt, für den wird es umso schwerer Vermögen und damit Lebensstandard und Altersvorsorge aufzubauen, wenn Vermögenspreise steigen.

Im exemplarischen Vergleich zweier Haushalte, wie sie für die deutsche Mittelschicht typisch sind2, wird dies deutlich. Hierzu betrachten wir zwei Haushalte, die über das gleiche Nettovermögen verfügen, jedoch mit einer wichtigen Ausnahme. Der erste Haushalt besitzt eine Immobilie, der zweite nicht. Als Eigenkapital hat der erste Haushalt hierfür 85% seines Finanzvermögens eingebracht. Die Verschuldung des Immobilienbesitzers entspricht dem Immobilienwert abzüglich des eingebrachten Eigenkapitals.

Die untere Graphik zeigt, wie sich die Preise der Vermögenswerte der beiden Haushalte entwickelt haben. Ohne Immobilien gab es für den typischen Mittelschichtshaushalt keine nennenswerte Vermögenspreisinflation. Knapp unter einem Prozent jährlich sind die Preise von dem, was sie besitzen, angestiegen. Kumuliert entspricht dies lediglich einem Preisanstieg von sieben Prozent über den Zeitraum von acht Jahren.

Mit Immobilienbesitz schaut dies gänzlich anders aus. Innerhalb des verhältnismäßig kurzen Zeitraums von acht Jahren können sich die Immobilienbesitzer der deutschen Mittelschicht über einen Preisanstieg von 74% ihrer Besitztümer erfreuen. Grund hierfür ist, dass ihre Immobilie um 79% im Preis angestiegen ist.

Die Differenz in der Vermögenspreisinflation zwischen den beiden Haushalten entsprechen den gestiegenen Kosten des Vermögensaufbaus, der zusätzlich zu den sonstigen Vorteilen des Immobilienbesitzes entstanden ist. Demnach ist Vermögensaufbau innerhalb von acht Jahren um 67 % teurer3 und somit gravierend erschwert worden. Nur die allerwenigsten werden das Glück haben, dass ein Gehaltsanstieg dies ausgleichen kann.

Nicht nur der Immobilienbesitz macht einen Unterschied. Auch andere Vermögensgüter wie Betriebsvermögen (55% Preisanstieg seit dem Jahr 2014) oder Aktien (Verteuerung um 32 % seit dem Jahr 2014) sind über den Zeitraum deutlich teurer geworden. Der Besitz dieser beiden Arten der Vermögensgüter variiert ebenfalls stark zwischen den Gesellschaftsschichten.

Auch wenn in den vergangenen zwei Quartalen die Vermögenspreisinflation deutlich nachgelassen hat und die Entwicklung einiger Vermögenspreise volatil sein kann, werden noch über lange Zeit die strukturellen Veränderungen im Quervergleich deutscher Haushalte bestehen bleiben.

Die Vermögenspreisinflation in Deutschland steht in einem engen Zusammenhang mit dem Wirtschaftswachstum und mit der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB). Die ultra-lockere Geldpolitik der letzten Jahre hat bewirkt, dass auf den Märkten für Vermögensgüter die Preise massiv angestiegen sind. Da Vermögensgüter in der deutschen Bevölkerung nicht gleichverteilt sind, wurden durch die Inflation strukturelle Vermögensunterschiede im Querschnitt des Vermögens, des Alters, der Berufsgruppen, etc. verschärft. Die nächste Stufe auf der Vermögensleiter ist für viele Haushalte nun unerreichbar geworden.

Gegeben dieser Erkenntnisse ist es verwunderlich, dass das Thema Inflation erst jüngst öffentlich an Fahrt aufgenommen hat. Es hätte schon in den vergangenen acht Jahren einen zentralen Platz in der öffentlichen Diskussion verdient gehabt.


1 Siehe Vermögenspreisindex für Deutschland Q3-2021.

2 Die Zusammensetzung der Haushaltsvermögen ist aus der PHF-Studie der Deutschen Bundesbank (2017) abgeleitet.

3 Differenz der Inflationsraten der Haushaltsvermögen: 74% - 7% = 67%

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